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Jonas Hartmann weiß: Nur auswendig gelernte Fluchtgeschichten sind vollständig bis ins Detail.

© Thilo Rückeis

Flüchtlinge in Berlin: Asylentscheider Hartmann gewichtet Schicksale

Während Deutschland um den richtigen Umgang mit Flüchtlingen ringt, hält er sich an Gesetze. Jonas Hartmann entscheidet dann über Asylanträge.

Bevor es beginnt, steht Jonas Hartmann noch einmal auf und klebt ein angeknittertes Schild an die Bürotür. Der Tesafilm am Rand ist so abgenutzt, dass er mehrmals mit dem Fingernagel darüberstreifen muss. „Anhörung, bitte nicht stören“, steht da. Hartmann setzt sich an seinen Schreibtisch, auf dem eine Wasserkaraffe steht, daneben eine große Packung Papiertaschentücher, für alle Fälle. Ihm gegenüber sitzt ein junger Mann, Mitte zwanzig, der darauf wartet, ihm seine Geschichte erzählen zu können – eine Geschichte, die in einer Nacht in einem Dorf in Syrien beginnt und ihn an diesem Morgen in Jonas Hartmanns Büro in Berlin führt.

Mehr als 1,5 Millionen Menschen haben in Deutschland in den vergangenen vier Jahren um Asyl gebeten. Seit mehr als zwei Jahren schon ringt das Land um den richtigen Umgang mit der Flüchtlingskrise. Zum Wahljahr 2017 hat die Bundeskanzlerin ihre 180-Grad-Drehung vollendet, von der Willkommens- zurück zur Festungspolitik. Der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei wurde genau vor einem Jahr geschlossen. Thomas de Maizière will die Anzahl der Abschiebungen erhöhen, hat am zurückliegenden Montag das „Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr“ eröffnet.

Er muss entscheiden, ob es die richtigen Gründe waren

Die SPD dagegen will die Beschränkungen des Familiennachzugs für Syrer aufheben, ihr Kanzlerkandidat sich noch gar nicht festlegen. Und obwohl die Fronten längst nicht mehr so verhärtet sind wie noch vor einem Jahr, teilt sich die öffentliche Meinung in die, die es schaffen wollen und die, denen es längst zu viel ist.

Doch egal in welche Richtung der politische Diskurs gerade schwappt, irgendwann sitzen sich in einem Raum zwei fremde Menschen gegenüber. Jonas Hartmann ist einer davon.

Auf der anderen Seite sitzen Menschen mit Hoffnung. Das Gesetz sagt: Jeder, der in Deutschland Asyl beantragt, hat das Recht auf eine Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz Bamf. Dort können sie die Gründe nennen, warum sie ihr Heimatland verlassen haben. Jonas Hartmann muss dann entscheiden, ob es die richtigen Gründe waren. Ob es reicht.

Erst am Donnerstag waren nach Angaben der italienischen Küstenwache knapp tausend Bootsflüchtlinge vor der libyschen Küste aus Seenot gerettet worden.
Erst am Donnerstag waren nach Angaben der italienischen Küstenwache knapp tausend Bootsflüchtlinge vor der libyschen Küste aus Seenot gerettet worden.

© AFP

Vor ein bisschen mehr als einem Jahr hat Hartmann, heute 31 Jahre alt, sich für die Stelle beim Bamf beworben, da hatte er gerade sein zweites Staatsexamen gemacht. Leute wie er wurden dringend gebraucht. Innerhalb von zwei Jahren wuchs die Zahl der Entscheider von 370 auf mehr als 3000.

Hartmann war auf der Suche nach einem Beruf, der ihn mit Menschen in Kontakt bringt. Im Januar bewarb er sich, am ersten Februar begann er seine Arbeit.

Die Berliner Außenstelle des Bamf liegt in einem großen, kastenförmigen Gebäude, in dem früher die Landesbank ihr Hauptquartier hatte. Zwei Eingänge führen ins Innere, einer für Asylbewerber, einer für Mitarbeiter. Mitarbeiter müssen durch eine Schranke im Foyer, Asylbewerber werden in eine Wartehalle geleitet. Dort werden ihre Taschen kontrolliert.

Wer Hartmann bei der Arbeit beobachten will, tut das unter strengen Regeln. Der Pressesprecher empfängt im Foyer, bringt einen bis zum Büro, sitzt an der Wand hinter dem Asylbewerber. Sogar zur Toilette kommt er mit. Im Kopierraum am Ende des Korridors, an dem Hartmanns Büro liegt, hängt ein Schild. „Bitte keine nicht mehr benötigten Kopien neben dem Kopierer liegen lassen (insbesondere bei sensiblen Daten)“. Der Privatsphäre der Bewerber wegen, erklärt der Pressesprecher.

Die Wahrheit, bitte

An diesem Morgen beginnt Hartmann, wie er immer beginnt: „Mein Name ist Jonas Hartmann. Ich bin Entscheider beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und führe heute mit ihnen die Anhörung durch“, sagt er und fragt den jungen Mann, ob er sich gesundheitlich dazu in der Lage fühle, das Gespräch zu führen. Der Dolmetscher, der neben dem Asylbewerber sitzt, übersetzt das Gesagte dann ins Kurdische. Was der Asylbewerber jetzt sagt, wird die Grundlage für die Entscheidung über den Asylantrag bilden. „Wenn Sie etwas erst später erzählen, kann es sein, dass es nicht berücksichtigt werden kann.“ Und, klar. Die Wahrheit, bitte.

Zu Anfang seiner Arbeit stand eine sechswöchige Ausbildung. Crashkurs für die Entscheidung über menschliche Schicksale. Rechtliche Grundlagen werden da vermittelt, Verwaltungsprozesse besprochen, Akten und Paragrafen.

Hartmann muss auch die Menschen lesen können.

Den meisten fällt es schwer, über ihre Flucht zu sprechen. Deshalb sei es wichtig, ruhig zu bleiben, eine positive Atmosphäre zu schaffen, sagt er. Gelingt das nicht, reicht er die Taschentücher.

Flüchtlinge durchbrechen die Absperrung aus Stacheldraht an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien bei Röszke, Ungarn.
Flüchtlinge durchbrechen die Absperrung aus Stacheldraht an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien bei Röszke, Ungarn.

© dpa

Die Anhörung ist der erste und einzige Moment, in dem Menschen über ihre Flucht und die Gründe dafür erzählen müssen. Beim Asylantrag müssen keine Gründe genannt werden. Manche, erzählt Hartmann, hätten vor ihrer Anhörung noch nie darüber gesprochen. Wenn also Flüchtlinge in seinem Büro nervös werden oder traurig, sagt er Sätze wie: alles gut, keine Aufregung. Kurze Zeichen des Mitgefühls, knapp genug, um den Verwaltungsakt nicht in die Länge zu ziehen.

Wenn Hartmann von seinem Job spricht, klingt er oft, als zitiere er aus den offiziellen Richtlinien: „In der Anhörung ist man empathisch, man ist dabei, man muss aber auch sehen, dass man objektiv bleibt, die richtigen Fragen stellt, um anschließend entscheiden zu können“, oder: „Der gesetzliche Rahmen ist vorgegeben. Zudem stehen mir detaillierte Informationen über die Länder zur Verfügung, an denen ich mich bei der Prüfung, ob die Schilderungen glaubhaft sind, orientieren kann.“

Und dann ist da immer wieder dieses eine Wort: „Subsumieren“. Hartmann benutzt dieses Wort oft, es klingt wie aus einer Bauanleitung, ist aber ein Begriff aus der Rechtssprache. „Prüfen, ob ein konkreter Sachverhalt den Merkmalen einer bestimmten Rechtsnorm entspricht“, heißt es im Duden. Es ist ein Wort, das mehr verschleiert, als es sagt.

 Zahl der abgelehnten Asylanträge in Deutschland 2007 bis 2016, absolut und in Prozent der Asylanträge und Zahl der Abschiebungen.
Zahl der abgelehnten Asylanträge in Deutschland 2007 bis 2016, absolut und in Prozent der Asylanträge und Zahl der Abschiebungen.

© dpa-infografik

Obwohl Hartmann sich immer wieder neu auf jeden Bewerber einlassen muss, der ihm in seinem Büro seine Geschichte erzählt, ist es am Ende keine Therapiestunde. Er soll keine Traumata lösen, nicht trösten, nicht helfen. Es geht darum, Schicksale zu gewichten. Nicht mehr und nicht weniger.

Der Ablauf dieser Prüfung ist immer gleich. Hartmann erklärt es dem jungen Mann: „Zuerst werde ich sie belehren, dann werden wir über ihre persönlichen Daten sprechen, dann stelle ich ihnen einige allgemeine Fragen zu ihrer Familie, ihrem Reiseweg und anderen Dingen. Dann haben sie Gelegenheit, ihre Asylgründe vorzutragen.“

Wo befindet sich der Kreisverkehr? Wo der Busbahnhof?

Der junge Mann hat sich für die Anhörung schick gemacht. Er trägt einen blauen Pulli, der neu aussieht, Bart und Haare hat er frisch gestutzt. Hartmann trägt Kleidung gewordene Objektivität, ein blau-weißes Karohemd, eine Brille mit schwarzem Rand, durch deren Gläser er konzentriert über den Tisch blickt. Der junge Mann erzählt von seiner Flucht, von Bedrohung, von den schlimmsten Erinnerungen seines Lebens. Der Dolmetscher übersetzt die kurdischen Worte nüchtern ins Deutsche. Um Hartmanns Hals hängt ein Headset, in das er nachspricht, was der Dolmetscher sagt, immer angeführt von „Frage Doppelpunkt“ und „Antwort Doppelpunkt“. Dann transkribiert eine Software das Gesagte in Buchstaben. Von der Lebensgeschichte des jungen Mannes bleibt am Ende ein Protokoll, gebannt auf elf Seiten Papier nach deutscher Industrienorm A4.

Hartmann beginnt, nach Details zu fragen. Was ist die größte Straße in ihrem Dorf? Wo befindet sich der Kreisverkehr, wo der Busbahnhof? Auf seinem Bildschirm zeigt er dem jungen Mann Fotos aus dessen Heimatort, lässt ihn Gebäude benennen. Hartmann testet so die Ortskenntnis des jungen Mannes, überprüft, ob der wirklich aus dem Ort kommt, der in seiner Akte steht. Dass jemand dabei lügt, sagt Hartmann, komme vor. Allzu häufig passiere es aber nicht. Trotzdem muss er fragen, den Verdacht der Lüge entkräften. Er hat Übung darin.

Jonas Hartmann, Jurist und Entscheider im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeigt dem Asylbewerber Fotos aus dem Dorf, aus dem er laut Akte stammt. So überprüft er, ob die Geschichte des jungen Mannes stimmt.
Jonas Hartmann, Jurist und Entscheider im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zeigt dem Asylbewerber Fotos aus dem Dorf, aus dem er laut Akte stammt. So überprüft er, ob die Geschichte des jungen Mannes stimmt.

© Thilo Rückeis

Der junge Mann erzählt von seiner Flucht, und Hartmann erfährt, dass er mit einem Auto illegal über die türkische Grenze gebracht wurde und von Österreich aus mit dem Zug nach Deutschland kam. Durch welche Dörfer er dabei genau fuhr, weiß der Kurde nicht mehr. Die Nacht und der Stress, man müsse das verstehen. Hartmann versteht. Wer die Wahrheit erzählt, vergisst. Nur wer auswendig lernt, erinnert jedes Detail. Das haben sie ihm im Kurs beigebracht.

Der junge Mann erzählt, der Dolmetscher übersetzt, Hartmann spricht in sein Headset. Antwort Doppelpunkt. Zweieinhalb Stunden lang.

Das Problem, erzählt der junge Mann, sei, dass er Kurde ist. Als solcher habe er in Syrien keine Rechte, er dürfe seine Muttersprache nicht sprechen, das öffentliche Zeigen der kurdischen Flagge sei verboten. Seine Familie sei schon immer gegen Assad gewesen. Vor dem Krieg stand ihr Haus unter Beobachtung, ihr Telefon wurde abgehört. Sein Vater habe Arbeitsverbot. Mehrmals seien bewaffnete Maskierte in ihr Haus gekommen. Er erzählt noch mehr an diesem Morgen, Erlebnisse, die schockieren, von denen man aber nichts schreiben darf.

Nichts verrät, was er gerade empfindet

Hartmann nickt aufmerksam. Nichts verrät, was er in dieser Situation empfindet. Geschichten wie die an diesem Morgen hört Hartmann regelmäßig, oft seien sie noch schlimmer. Am Anfang, als er das alles zum ersten Mal hörte, dachte er viel darüber nach. Man wisse ja, dass Dinge passieren, sagt er. „Aber es dann direkt von den Leuten zu hören, ist etwas anderes, man wird sich des Ganzen bewusster“. Meist benutzt er das Wort „man“, wenn er von seiner Arbeit erzählt, selten wird er persönlich.

Nur so viel sagt er: dass er besonders krasse Geschichten mit seinen Kollegen bespricht. Dass es auch Supervision gebe, er das aber noch nie in Anspruch genommen habe. Dass er, wenn jemand ihm von einer Vergewaltigung erzählt, fragt, ob er oder sie sich schon Hilfe geholt habe und dass er dann Kontakte vermittelt, zu Psychologen und Selbsthilfegruppen. Dass er dann versucht zu helfen, so gut er kann, obwohl es nicht sein Job ist. Dass das hilft, damit umzugehen – auch ihm.

Eine Sprachmittlerin (l) hilft in der Registrierungsstelle für Flüchtlinge in Berlin einer Familie aus Syrien. In dem Haus in der Bundesallee im Stadtbezirk Wilmersdorf sitzen von der Erstregistrierung über den Antrag auf Asyl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bis zur Ausländerbehörde und der Bundesagentur für Arbeit alle so genannten Entscheider unter einem Dach.
Eine Sprachmittlerin (l) hilft in der Registrierungsstelle für Flüchtlinge in Berlin einer Familie aus Syrien. In dem Haus in der Bundesallee im Stadtbezirk Wilmersdorf sitzen von der Erstregistrierung über den Antrag auf Asyl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bis zur Ausländerbehörde und der Bundesagentur für Arbeit alle so genannten Entscheider unter einem Dach.

© dpa

Ob er schon mal an einer Entscheidung gezweifelt habe? Der Pressesprecher unterbricht. Das menschle ihm jetzt zu sehr.

Das Amt ist eine Art Blackbox, in der aufseiten der Entscheider persönliche und menschliche Faktoren keine Rolle spielen. Die Entscheidung als Quasi-Algorithmus, objektiv, so die Botschaft nach außen. Das Amt muss unpolitisch bleiben. Und weil Emotionen immer politisch sind, bleibt der Mensch Hartmann hinter dem Entscheider, seine Gefühle hinter den Richtlinien.

Er versucht, das zu schaffen, was außerhalb der Büroräume kaum jemandem gelingt. Sich zurücknehmen. Zuhören, zusehen. Verstehen, dann entscheiden.

In Hartmanns Büro ist der junge Mann aus Syrien am Ende seiner Geschichte angelangt.

Sind das alle Gründe?

Ja.

Hatten sie ausreichend Gelegenheit, ihre Asylgründe zu schildern?

Ja.

Hartmann tippt noch etwas in seinen Computer. In einigen Wochen wird der junge Mann erfahren, ob seinem Antrag stattgegeben wird.

Jetzt ist Jonas Hartmann, der immer gerne mit Menschen arbeiten wollte, allein mit der Entscheidung.

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