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Ein spanischer Soldat weist im Mai 2021 marokkanische Migranten zurück, die im Meer vor der Exklave Ceuta versucht haben, Spanien zu erreichen.

© Reuters / Jon Nazca

Das Ende eines Stücks Grundgesetz: Was hat der Asylkompromiss gebracht?

Vor 30 Jahren einigten sich die schwarz-gelbe Regierung Kohl und die SPD auf eine drastische Einschränkung des Grundrechts auf Asyl. Zwei Experten ziehen Bilanz.

Mehr als vierzig Jahre lang, seit 1949, stand der Satz kurz und knapp im Grundgesetz: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Für die Mütter und Väter der Verfassung war der Artikel 16 Konsequenz aus der Vertreibung von Deutschen durch das NS-Regime, Oppositionelle, Jüdinnen und Juden, nicht genehme Künstler. Viele hatten vergeblich Schutz im Ausland gesucht.

Doch seit den 1980er Jahren hatten die Angriffe auf den Artikel 16 zugenommen, vor allem aus den Reihen der Union. Die SPD sperrte sich lange. Man brauchte sie für die Zwei-Drittel-Mehrheit, die für Grundgesetzänderungen nötig sind.

Doch 1992 knickte sie ein. Die Zahl der Asylanträge war auf 440.000 gestiegen, die meisten von Menschen, die aus dem zerfallenden Bürgerkriegsland Jugoslawien ins gerade vereinte Deutschland flohen.

Die Ergänzung, die das Aus für die Asylgarantie bedeutete

In Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln beispielsweise wurden Wohnungen von Eingewanderten und Asylbewerberunterkünfte angegriffen, Menschen starben. Im Frühjahr 1992 fuhren die rechtsextreme DVU und die Partei der „Republikaner“ bei Landtagswahlen hohe Wahlergebnisse ein.

Als Reaktion darauf gaben die Regierung und die größte Oppositionspartei nach. Um Mitternacht vor dem Nikolaustag 1992 verkündete der damalige Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble, man wolle das Asylrecht im Grundgesetz „ergänzen“. Erhalten bleibe der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Aber dem sollte die Einschränkung folgen:

Der Asylkompromiss hat auf mittlere Frist die Grundlage für eine Europäisierung des Asylrechts gelegt.

Daniel Thym, Professor für Migrationsrecht

„Asylrecht soll nicht genießen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist.“

Spötter kommentierten seinerzeit: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Außer in Deutschland.“ Deutschland konstruierte um sich herum eine Reihe sicherer Drittstaaten, durch die es sich von eigener Verantwortung für Flüchtende freigestellt sah.

Jugoslawien damals, Ukraine heute – Debatte bleibt irrational

„Ich kann mich noch gut erinnern, wie schockiert damals alle waren, die sich mit Flüchtlingsschutz beschäftigten, die Initiativen, die NGOs, auch jahrelang noch“, erinnert sich Reinhard Marx. Der Frankfurter Anwalt vertritt seit vielen Jahren Mandant:innen in Asylfällen und war mehrfach auch als Sachverständiger in Bundestagsanhörungen.

Von Notstand sei die Rede gewesen, weil etwas mehr als 400.000 Menschen hier Schutz suchten. „Jetzt haben wir eine runde Million Kriegsflüchtlinge hier, gleichzeitig wird versucht, etwa 2000 afghanische Flüchtlinge draußen zu halten. Daran können Sie die irrationalen Muster der Debatte damals und auch der folgenden Asyldebatten erkennen.“

Er selbst habe sich danach in seinen Schriftsätzen in Asylverfahren gar nicht mehr auf den veränderten Asylartikel bezogen. „Ich habe mich nicht mehr auf ihn berufen, sonst hätte das Gericht den Reiseweg meiner Mandaten aufklären müssen, was das Verfahren nur aufgehalten hätte. Der Artikel 16 war nach 1992 tot, geschliffen, er ist uns geraubt worden.“

Was hat der Asylkompromiss im Sinne seiner Erfinder gebracht?

„Gar nichts“, sagt Marx. „Er wird vom Unionsrecht überdeckt, das so etwas wie die Konstruktion sicherer Drittstaaten gar nicht kennt, also die Einzelfallprüfung ausschaltet. Dieses Recht ist für die Mitgliedstaaten verbindlich. Abweichende nationale Regelungen dürfen nicht angewandt werden.“

1996 habe das Bundesverfassungsgericht dem Asylkompromiss vom Nikolaustag seinen Segen gegeben, „aber auch dieses Urteil war kurz danach Makulatur. Drei Jahre später hatten wir in diesen Fragen das Recht der EU, das mit dem Vertrag von Lissabon für die Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht einführte: Wir konnten mit diesen Fragen zum Europäischen Gerichtshof gehen.“

Darin sieht Daniel Thym den eigentlichen Erfolg des Kompromisses: „Wenn man jetzt sagt, der Asylartikel im Grundgesetz ist heute nicht mehr wichtig, dann ist das richtig, aber in dem Sinne, dass er durch europäische Gesetze abgelöst wurde.“ Genau das sei aber Sinn der Grundgesetzänderung gewesen. „Natürlich war der Asylkompromiss zuerst einmal ein innenpolitisch motiviertes Unternehmen.

Aber er hat dann auf mittlere Frist auch die Grundlage für eine Europäisierung des Asylrechts gelegt. Es war damals schon länger klar, dass Nationalstaaten allein die Migrationsbewegungen nicht vernünftig regeln konnten.“ Weil die große Mehrheit der Migrant:innen nach Deutschland, teils nach Österreich, Dänemark und in die Niederlande kam, lag „eine europäische Lösung im deutschen Interesse“.

Europa hat Regeln aufgestellt, aber sie funktionieren nicht

Auch die Abschottung gegen das Leiden der Welt hat nicht funktioniert, wie spätestens die große Fluchtbewegung vor sieben Jahren aus Syrien und Libyen zeigte. Damals sei, so Thym, jenes europäische Asylsystem zusammengebrochen, „das Deutschland aufgebaut hatte und von dem es lange profitierte“.

Die Idee einer Lastenteilung habe nicht funktioniert. „Wer nach Deutschland will, kommt dorthin, wer nach Frankreich will – auch das sind nicht wenige – kommt dorthin“, sagt Thym. „Wir haben in Europa zwar Zuständigkeitsregeln, aber sie greifen nicht, und auch Rückführungen sind selten möglich.“

Der Asylkompromiss ist ein Desaster, der Raub eines Grundrechtes.  

Reinhard Marx, Asylrechtsexperte und Anwalt

Daher mache die EU es den Menschen sehr schwer, überhaupt erst zu kommen, „mit restriktiven Visavergaben, mit Vorgaben an Fluggesellschaften“. Das sei „wie in den 1990ern. Und bei den Flüchtenden ist es bei der Selbstselektion geblieben. Es kommen die Stärkeren öfter als die Bedürftigsten.“

„Internationale Vorschriften sind klarer als das Grundgesetz“

Auch Thym sieht wie Marx den Rechtsschutz durch die Europäisierung des Asylrechts eher gestärkt. Marx weist darauf hin, dass 2021 das Bundesverfassungsgericht sogar entschied, dass Unionsrecht deutschem Recht vorgeht.

„Das heißt, wir können uns jetzt auch an Karlsruhe wenden, wenn in der Grundrechtscharta der Europäischen Union verankerte Grundrechte unseres Erachtens verletzt worden sind“ – für Asylverfahren sind das die Artikel 18 und 19 der Charta. „Und etliche internationale Vorschriften sind ohnedies viel klarer, als es die Asylgarantie im Grundgesetz war, zum Beispiel das absolute Folterverbot und das Verbot der Abschiebung, wenn sie droht.

Zwar gelten diese absoluten Garantien auch in Deutschland, aber sie werden in der Verfassung nicht ausdrücklich genannt, sondern sind stillschweigend Inhalt der Menschenwürdegarantie.“ Den Asylkompromiss hält er dennoch weiter für „ein Desaster“, er sei „der Raub eines Grundrechtes“ gewesen. 

Brauchen wir noch ein Asylrecht, wäre Einwanderungsrecht nicht besser?

„Nein, das muss man trennen“, sagt Reinhard Marx. „Wer verfolgt ist, womöglich mit dem Tode bedroht, der braucht effektiven Schutz und eine rechtlich sichere Situation. Er muss auch vom Staat versorgt werden. Ich bin unbedingt für Arbeitsmigration, aber: Der Status einer Facharbeiterin nützt Verfolgten nichts. Ein Arbeitsmigrant ist nicht in dieser Weise schutzbedürftig.“

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Thym hält dagegen: „Vielleicht ist es an der Zeit, sich ehrlich zu machen. Das individuelle Asylrecht mit komplizierten und langen Verfahren funktioniert nicht mehr. Wir können es ersetzen oder jedenfalls ergänzen. Durch großzügige Zugangswege für Flüchtlinge und auch Menschen, die zur Arbeit kommen wollen.“

Es sei doch „viel besser, wenn die Leute mit dem Flugzeug oder Bus kommen, schon etwas Deutsch sprechen und von Anfang an arbeiten und Geld verdienen“. Berlin und Brüssel hätten das schon oft versprochen. „Nur leider passiert in die Richtung praktisch nichts.“
 

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