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Zahlreiche Menschen standen zur Wahl Schlange.

© Foto: picture alliance/dpa/Monika Skolimowska

Neuwahlen in Berlin? : Eine Chance für die Demokratie

Wenn Vertrauen verloren geht, muss man es neu gewinnen. Der Weg des Berliner Verfassungsgerichts geht deshalb in die richtige Richtung.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Angekündigt war eine vorläufige rechtliche Einschätzung durch das Verfassungsgericht, doch was es dann wurde, kann man als Abrechnung bezeichnen. Dass Wähler sich beklagen, wenn sie mal Schlange stehen müssen, hört man öfter aus Ländern, in denen die Demokratie sonst auf gutem Weg ist.

In Berlin aber wurde eine Dysfunktionalität anderer Dimension offenbar. Das Gericht hat sie jetzt allen vor Augen geführt, die noch geglaubt hatten, dass solche Wahlfehler Fehler sind, die eben passieren können.

Dass Wahlen Bestand haben, ist ein Wert in einer Demokratie

Das Urteil ist noch nicht gefallen, doch die Entscheidung scheint getroffen. Leicht dürfte sie nicht gewesen sein. Dass Wahlen Bestand haben, auch wenn nicht alles nach Goldstandard klappt, ist ein Wert in einer Demokratie. Eine Koalition wurde gebildet, eine Opposition hat sich gefunden; es wurden Gesetze gemacht, Beschlüsse gefasst. Repräsentative Demokratie braucht einen Rhythmus, sonst kommt sie aus dem Takt.

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Kann sein, dass in der digitalen Home-Office-Gesellschaft der Besuch im analogen Wahllokal als aus der Zeit gefallen empfunden wird. Sogar bei den Organisatoren.

Jost Müller-Neuhof

Demokratie braucht aber auch Vertrauen. Und dies besteht wesentlich darin, dass Wählerinnen und Wähler in zumutbaren Umständen ohne Hast ihr Kreuzchen machen und fest damit rechnen dürfen, dass ihre Stimme zählt. Hier fügt sich das erste Glied in eine Legitimationskette, an deren Ende über das Schicksal eines Gemeinwesens bestimmt wird.

Zurecht hob das Gericht bei der Verhandlung hervor, dass gerade im äußeren Wahlakt – Besuch des Wahllokals, Kontrolle, Stimmzettelausgabe und -einwurf – eine zentrale Funktionsweise der Demokratie von jeder und jedem in Augenschein genommen wird. Das muss nicht nur funktionieren, es muss gut funktionieren.

Wenn es überhaupt Prognosen für das Wahlgeschehen gab, waren sie unzulänglich

Das Gegenteil: Berlin im September 2021. Die Landeswahlleitung hat versagt, die Innenverwaltung als Kontrolle und Aufsicht ebenso. Nach Ansicht des Gerichts waren die Prognosen für das Wahlgeschehen – soweit es welche gab – derart unzulänglich, dass vor Ort kaum noch etwas zu retten war.

Zudem schien man leichtfertig davon ausgegangen zu sein, dass der Herbstsonntag überall hin zu einem Ausflug einlädt, nur nicht an die Urne. Entsprechend wurde bei den Stimmzetteln viel zu knapp kalkuliert. Kann sein, dass in der digitalen Home-Office-Gesellschaft der Besuch im analogen Wahllokal als aus der Zeit gefallen empfunden wird. Sogar bei den Organisatoren.

Das wäre verhängnisvoll. Eine Gesellschaft muss sich beim Wählen sehen und erleben dürfen. Insofern ist nur zu hoffen, dass sich die Berlinerinnen und Berliner bei einem neuen Durchgang nicht abschrecken lassen. Denn was Demokratie neben genügend Stimmzetteln und Vertrauen, dass diese korrekt gezählt werden, auch noch braucht, sind Wählerinnen und Wähler, die sich zeigen. Öffentlich. Sonst stirbt sie irgendwann.

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