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Erinnerungen an die Gegenwart: Für Maria, Rita Süssmuth und Griechenland

Im Sommer vor 20 Jahren verbrachte ich viel Zeit auf der Wiese vor dem Reichstag.

Damals gab es noch normale Sommer, man konnte tagelang dort liegen, ohne zu verglühen oder zu verregnen.

Ich war nicht allein auf der Wiese, sondern mit ungefähr 20 000 anderen Menschen. Es gab Feuerschlucker, Jongleure, Rosenverkäufer, Trommler, Tänzerinnen, fliegende Miniröcke, aufsteigende bunte Ballons. Und Menschen mit selbst mitgebrachten Suppen, Salaten, Süßspeisen, alle gemeinsam auf der Wiese, die Speisen tauschend, so wie ich es vom Ramadan-Fest aus der Türkei kenne.

Abends war es ganz besonders schön, dann lag der Reichstag da wie eine Gletscherlandschaft im matten Glanz des Abendlichts.

Ich verliebte mich in eine Frau, sie hieß Maria. Keine Ahnung, wo sie heute steckt. Zuletzt sah ich sie vor dem verhüllten Balkon, von dem aus Philipp Scheidemann die Republik ausgerufen hatte. Wir hatten noch ein Foto gemacht, sie auf meinen Schultern, ihre Hand dem Balkon entgegengestreckt.

Maria hatte ich dem Künstler Christo zu verdanken, er hatte mit seiner Frau den Reichstag verhüllt. Damals diskutierte das ganze Land, ob das Kunst sei. Helmut Kohl war dagegen, Rita Süssmuth dafür. Ich liebte deshalb Rita Süssmuth, denn ohne sie hätte es Maria auch nicht gegeben.

Die Kunstdebatte über Christo war heftig, heute würde man sagen: krass. Man sah, wie sich Kunstkritiker auf öffentlichen Podien fast prügelten wie in südländischen Parlamenten, ich erinnere mich an Wolfgang Thierse als Schlichter.

Einen Abend aß ich von der Käseplatte einer jungen Gräfin, die ich auch auf der Reichstagswiese kennengelernt hatte (wir hatten aber nichts). Ich lehnte am Knie der Gräfin und lauschte dem Vortrag eines Lehrers, der gleich neben uns seine Schulklasse unterrichtete. Er sagte, dass es sich hier um eine Enthüllung durch Verhüllung handele. Schon die alten Griechen hätten verhüllt, um Sachverhalte zu enthüllen.

Dass man etwas verhüllt, um es eigentlich zu enthüllen, hatte ich verstanden, schließlich beschäftigte ich mich tagelang mit dem Reichstag. Ich las Aufsätze, die da hießen: „Christos Tücher und die deutsche Demokratie“, „Der Reichstag im Spiegel der Geschichte“ oder „Tiefenschichten eines historischen Symbols“ oder „Aufklärung und Verschleierung – Anmerkungen zur Politik“.

Heavy stuff, aber ganz gut.

Könnte man nicht mal Griechenland verhüllen? Vielleicht würde sich alles aufklären, wenn man Griechenland mit Tüchern einhüllt. Das ist zwar teuer, aber dafür geben die Banken bestimmt auch noch Kredite. Seit Jahren beschäftigen sich alle mit Hilfsprogrammen und Rettungsschirmen für Griechenland, aber Griechenland selbst scheint keiner zu verstehen. Nicht mal die Griechen selbst. Wenn man den griechischen Staatsapparat verhüllt, die Katasterämter, die Steuerbehörde usw., vielleicht ist das der erste Schritt zur Reform. Enthüllung durch Verhüllung, sagte der Lehrer.

Natürlich muss man auch die Banken verhüllen, besonders die Banken. Das Wesen, die Tiefenschicht der Banken, wird dann sichtbar. Wie viel haben sie seit 2010 an der Griechenland-Krise verdient? Billionen? Davon spricht niemand. IWF, ESM, EZB, niemand steigt mehr durch, alles verhüllen!

Ich würde auf jeden Fall auch das Europa-Parlament in Brüssel verhüllen. Oben kann ja noch der Kopf von Martin Schulz herausgucken, so wie die deutsche Fahne über dem Reichstag, die war ja auch nicht verhüllt.

Danach komme ich mit Maria und Philipp Scheidemann und rufe ein neues Europa aus.

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