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Yuliia „Taira“ Paievska (rechts) nach ihrer Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft.

© IMAGO/Markiian Lyseiko

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (78): Eine lebende Legende hört uns zu

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

22. bis 24.10.2022
Ich machte mir Sorgen, wer zu unserem Konzert auf der Frankfurter Buchmesse kommen würde – man würde dafür eine Eintrittskarte der Messe brauchen. Ob es für alle okay und nicht zu teuer wäre, fragte ich mich. Aber als ich die Schlange vor dem Frankfurt Pavillon sah, wusste ich, es wird voll!

Um vor dem Auftritt noch einmal zu prüfen, ob die ganze Technik funktioniert, hatten wir kaum eine halbe Stunde. Also war ich etwas gestresst, als Serhij Zhadan und ich auf die Bühne gerufen wurden. Ich habe mir dabei die ganze Zeit vorgestellt, wie meine Gitarre verstimmt oder der Rechner mit der ganzen Musik abstürzt.

Jedoch funktioniert alles bestens, ich spiele den ersten Akkord und habe endlich Zeit, ins Publikum zu schauen. Was ich sehe, ist überwältigend. Manche Gesichter erkenne ich sofort – direkt vor mir steht Fabian Mühlthaler, der Leiter des ukrainischen Goethe Instituts.

Ich weiß noch, wie ich im Dezember 2021 seine Plattensammlung in Kiew bewundert habe. Wir haben uns über den rumänischen Prog-Rock unterhalten, und auch darüber, wie toll wir beide die ukrainische Hauptstadt fanden – im Februar 2022 musste Fabian sie verlassen.

Hinter ihm sehe ich Ira und Nataliia vom ukrainischen Kultur- und Museumskomplex Mystetskyi Arsenal, durch deren Initiative wir Fokstroty entwickelten. In einer der imposanten, im späten 18. Jahrhundert errichteten Hallen des Arsenals feierten wir genau vor einem Jahr die Fokstroty-Premiere, Ira und Nataliia waren auch dabei. Ich erkenne Petro Bokanov, den Priester der Ukrainischen Orthodoxen Kirche aus Mannheim. Ich habe viel von ihm gehört, wir sind Freunde auf Facebook, sind uns aber persönlich noch nie begegnet.

Und dann… ich glaube es zuerst nicht und vergesse sogar, was ich gleich spielen soll, aber ich schaue nochmal, um mich zu vergewissern, dass meine Augen richtig sehen – ganz rechts neben der Bühne steht Yuliia „Taira“ Paievska, die ukrainische Sanitäterin, die im März in Mariupol festgenommen wurde und drei Monate in russischer Gefangenschaft verbracht hat.

Jemand hält mich für Zhadan – bizarr

Dass sie hier ist, dass sie lächelt und offenbar unser Konzert genießt, ist ein wahres Wunder – und auch das höchste Kompliment! Auch andere Ukrainer haben sie gesichtet. Sobald die letzten Töne der Zugabe verklingen, bildet sich eine Schlange vor ihr. Jeder möchte ein Selfie mit Taira machen oder sie einfach umarmen.

Als wir fertig sind, sprechen auch mich gleich mehrere Menschen an – ein älterer dünner Typ fragt ganz aufgeregt auf Englisch, ob ich der Zhadan bin. Wow, gibt es bei der Buchmesse tatsächlich noch Menschen, die nicht wissen, wie Zhadan aussieht?

Er wirkt verwirrt, als ich mit einem „Nein“ antworte, will wissen, wer ich bin, macht ein Selfie von uns beiden und sagt: „Es wäre für mein Magazin über russische Literatur im Exil.“ Daraufhin möchte ich nicht, dass er das Bild verwendet, und sage, dass ich schließlich kein russischer Autor bin. Da versucht er ganz laut mich über die russischen Dissidenten aufzuklären, und zwar auf Polnisch.

Aber ich bin schon in einem anderen Gespräch. Eine Dame stellt sich vor – Natalia Feduschak vom Jewish-Ukrainian Encounter. Sie möchte mehr von ihrer Organisation erzählen, aber ich versichere ihr, es sei nicht nötig, ich kenne sie nämlich schon. Auf meiner Suche nach den Schnittstellen zwischen ukrainischer und jüdischer Kulturen bin ich öfter auf ihre Webseite gestoßen. Bei der Buchmesse in Kiew im letzten Juni hatte ich ihren Stand entdeckt und hätte mir am liebsten alle dort ausgestellten Bücher gekauft, nur fehlte der Platz in meinem Koffer.

Natalia Feduschak ist in Kanada aufgewachsen, sie lebt in Denver, Colorado, und redet über die Identitätskrise amerikanischer Juden, die wie sie aus der Ukraine stammen und in den USA leben. Viele haben sich schon immer als „russian Jews“ gesehen, aber in den letzten Monaten begreifen sie – eigentlich haben sie mit russland nichts zu tun!

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