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Rockmusik in Russland heute: Junge Fans am Grab der russischen Achtziger-Ikone Wiktor Zoi.

© IMAGO/Russian Look

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (71): Russland, es schmerzt, dich anzuschauen

Der ukrainische Autor, DJ, und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

1. Oktober 2022

Zu meinem 14. Geburtstag bekam ich eine Platte von den Beatles, die ich wochenlang rauf und runter hörte, bis mein Cousin mir zwei Kassetten mit zeitgenössischer Musik brachte. Rockmusik mit sozialkritischen Texten auf russisch. Ich habe für mich die Undergroundszene der Achtziger entdeckt: Bands, die jahrelang verboten waren, Musik, die man nicht im Radio hören könnte.

Beim allerersten Konzert, das ich besucht habe, sah ich die bekannteste Charkiwer Band von damals, Rasnyje Ljudi. Ihre Songs kannte ich bereits; wie viele ihrer Kollegen haben sie in den Texten das sowjetische Regime scharf kritisiert. Ihr Sound erinnerte an eine Schulband, die versuchte, Hardrock zu spielen – wobei aber trotzdem Punk rauskam. Der Sänger Aleksandr Tschernetskij klang wie ein verletztes Tier, man hatte den Eindruck, dass ihm das Singen weh tat.

Rockmusik als Protestkultur in der UdSSR

Vielleicht war es auch so. Vor seiner Rockerkarriere hatte Tschernetskij Fußball gespielt und erlitt dabei ein Trauma der Wirbelsäule, mit der Zeit ging es ihm immer schlechter: Er trat mit Gehstock auf, das Publikum konnte bei den Konzerten seinen Schmerz spüren. Aber Charkiw feierte Rasnyje Ljudi. Die Jugend zitierte Tschernetskijs Texte und sang bei den Konzerten von der ersten bis zur letzten Zeile laut mit. Einer ihrer größten Hits hieß „Rossija“: „Es schmerzt, Dich anzuschauen, russland / Bis zum Hals bist Du in den Lügen und Korruption versunken …“

In den frühen Neunzigern war Tschernetskij nicht mehr in der Lage, auf der Bühne zu stehen. Retten konnte ihn nur eine teure Operation, seine Musikerkollegen initiierten eine Crowdfunding-Kampagne ohne gleichen. Fans aus der ganzen Sowjetunion sammelten Geld, Tschernetskij wurde operiert.

Für viele Bands brachten Perestroika und Glasnost eine Krise mit sich. 

Yuriy Gurzhy

Für viele Bands brachten Perestroika und Glasnost eine Krise mit sich. Früher galten sie als cool, weil ihre Musik verboten war – und plötzlich durften sie alles. Schon bei den ersten großen Gigs stellte sich oft heraus, dass die Musiker mit den großen Bühnen nicht klar kamen. Noch schlimmer: Man konnte über alles singen. Die Regierung und die Kommunistische Partei zu kritisieren, verlor ihren Reiz. Das tat inzwischen jede Zeitung.

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Um viele Underground-Helden wurde es still, auch Rasnyje Ljudi traten nicht mehr so oft wie früher auf. Tschernetskij schwebte nicht mehr in Lebensgefahr, dennoch ging es ihm anscheinend nicht so gut. 1999 zog er mit der Familie nach St. Petersburg, wo er bald eine neue Band unter dem alten Namen zusammenstellte.

Ich war überrascht, als ich ein paar Jahre später seine neuen Songs hörte. Nein, an der Musik hat sich kaum etwas verändert, sie klangen genauso wie die alten, aber die Themen … Immer öfter sang Tschernetskij über die sowjetische Kindheit, in den Videos trug er ein rotes CCCP-Shirt. Trotz der vertrauten Stimme wirkten die neuen nostalgischen Lieder fremd.

Die Band trat immer wieder in der Ukraine auf. Die Einladung, 2014 auf dem Maidan zu spielen, lehnten Rasnyje Ljudi jedoch ab, mit der Begründung, sie seien unpolitisch. Seit der Krieg ausgebrochen ist, hat sich Tschernetskij jedoch immer wieder politisch geäußert. In seinen Interviews bezeichnet er sich als einen Ukrainer, als sowjetischen Menschen, als Internationalisten. Gefragt nach seiner Meinung zur Situation in der Ukraine, antwortet der Ex-Protestrocker mit Sätzen, die genauso gut aus den Propaganda-Sendungen des russischen Fernsehens stammen könnten. Die Brudervölker wurden in Streit gebracht, die Banderisten zerstörten unser schönes Land, die heutige Ukraine sei „Banderstan“.

Heute schlug mir Youtube ein neues Video von Rasnyje Ljudi vor, „Konzert zum Tag des russischen Ruhms“ aus dem Juni 2022. Ich schaute rein und habe es bis zu Tschernetskijs Ansage nach dem ersten Song ausgehalten: „Ruhm allen Soldaten, die unsere gemeinsame Heimat von den Nazis befreien!“ Den Song „Rossija“ singen Rasnyje Ljudi nicht. Wahrscheinlich schmerzt es nicht mehr.

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