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Yonatan David Weizmann

© Piero Chiussi

Bildungarbeit gegen Antisemitismus: Wer sich kennt, hasst sich nicht

Yonatan David Weizmann wurde in Israel geboren und engagiert sich im Rollbergkiez in Neukölln für den jüdisch-muslismischen Dialog - ein Auszug aus dem neuen Buch "Goodbye Hate!".

"Schalom Aleikum" ist ein Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland, das den jüdisch-muslimischen Dialog fördert und Antisemitismus-Prävention betreibt. In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht "Schalom Aleikum" Bücher, in denen gesellschaftliche Multiplikatoren aus verschiedenen Bereichen zu Wort kommen - so auch im aktuellen vierten Band "Goodbye Hate", der Akteuren im Bildungswesen gewidmet ist. Nachfolgend veröffentlicht der Tagesspiegel einen Auszug daraus: Die Geschichte von Yonatan David Weizman. Er lebt in Berlin und ist Projektleiter bei „Shalom Rollberg“. 1981 wurde er in Herzlia in Israel geboren. Er studierte Literatur an der Universität von Tel Aviv und in Oxford. Seit 2008 ist er in einem jüdisch-muslimischen Dialogprojekt involviert. 2010 zog er nach Berlin.

Als Israeli geboren und aufgewachsen, empfand ich Antisemitismus als ein Phänomen der Vergangenheit. Etwas, was nur in Schwarz-Weiß existiert und sich in schrecklichen Geschichten abspielt, aus weit entfernten Welten, die nicht mehr existieren. Eine Welt, die nicht meine war. Es gab tatsächlich Gefahren und Bedrohungen, die mein Leben geprägt haben. Jedoch habe ich es nie als eine Erscheinungsform von Antisemitismus wahrgenommen, obwohl die Gefahren in Israel sehr wohl mit Antisemitismus zu tun haben. Die Feindseligkeit gegenüber Juden damals war somit kein relevantes und gegenwärtiges Thema für mich. Das war natürlich der Fall, solange ich in Israel gelebt habe, der einzige Ort auf der Welt, in dem eine jüdische Mehrheit lebt. Meine Erfahrungen waren also die eines Mehrheitszugehörigen.

Mein Selbstbild entsprach nicht dem vieler Europäer

Mit dem Umzug nach Deutschland änderte sich alles. Ich bin nicht aus ideologischen Gründen umgezogen, sondern ganz einfach aus Liebe zu einer Person und einem allgemeinen Wunsch nach Veränderung. Sobald ich ankam, fand ich langsam meinen Platz in der deutschen Gesellschaft. Allmählich fingen die alten Bilder an, Farbe zu bekommen, und neue wurden hinzugefügt. Je besser ich mich integrierte, die Sprachkenntnisse aufbesserte und soziale Kontakte erweiterte, desto bewusster wurde mir, dass mein Selbstbild nicht dem vieler Europäer entsprach. Bis dahin betrachtete ich mich selbst als einen Weltbürger, jenseits jeglicher Definition. Traditionelle Definitionen von Personen nach Glaube, Ethnie und Nationalität waren für mich bedeutungslos. Für die Menschen in meinem Umfeld war das aber nicht der Fall. Für sie war ich ein Israeli und ein Jude.

Ich werde, wie viele andere Israelis sicherlich auch, oft in Bezug auf die israelische Politik und Gesellschaft und vor allem in Bezug auf das Judentum ausgefragt. Die Menschen, die ich in Deutschland getroffen habe, waren neugierig auf das Judentum, diese alte, mysteriöse Sache bekannt aus Schwarz-Weiß-Fotos (oder farbigen Fotos von Menschen, die Schwarz-Weiß tragen). Und allein durch die Tatsache, dass ich so geboren wurde – nämlich jüdisch, jemand außergewöhnliches und einzigartiges – war ich die Person, an die sie ihre Fragen richteten. Ich war für sie eine Quelle. Mir wurde klar, dass ich – obwohl ich versucht habe, mich selbst jenseits der Definition wahrzunehmen – tatsächlich zu einer bestimmten Gruppe gehörte. Ich war Jude, ich war Teil einer kleinen, aber historisch bedeutenden Minderheit. Die Art von Minderheit, von der viele gehört, aber nur wenige ein Mitglied getroffen hatten.

Hier in Deutschland war ich der andere

Sobald ich akzeptiert hatte, wer ich bin und wie ich in Deutschland wahrgenommen werde, habe ich die Entscheidung getroffen, mich im Bereich Bildung zu engagieren. Lange genug habe ich an einem Ort gelebt, an dem Angst und Bedrohung zusammen mit der Trennung vom gesellschaftlichen „Anderen“ einen Großteil meines Lebens definierten. Ich war entschlossen, diese Dinge mein Leben in Deutschland nicht bestimmen zu lassen. Hier in Deutschland war ich der andere. Und leider habe ich hier erkannt und erlebt, dass Antisemitismus nicht nur der Vergangenheit angehört. Es war daher meine Pflicht, gegen Antisemitismus zu kämpfen. Dabei wurde mir klar, dass ich nicht nur akzeptieren musste, wer ich war, sondern mich auch der Mehrheit zur Verfügung stellen musste.

Die Arbeit, die wir bei „Shalom Rollberg“ leisten, eine Organisation, die ich seit 2018 leite, zielt darauf ab, Antisemitismus und andere Formen von Xenophobie zu verringern, indem wir unmittelbaren Kontakt zwischen JüdInnen und Nicht-JüdInnen schaffen. Wir wollen die fremden, unbekannten, mysteriösen JüdInnen, die die meisten Deutschen nur vom Hören kennen, als präsent, real und erreichbar darstellen.

Der Grund dafür ist, dass wir bei „Shalom Rollberg“ wissen, dass die Präsenz in Zeit und Raum der Schlüssel zur Beseitigung von Feindseligkeiten ist.

Wenn man sich nicht kennt, dann beginnt der Hass

Es ist das philosophische Fundament unserer Arbeit: Wenn man sich gegenseitig kennt, dann hasst man sich nicht. Und im Umkehrschluss bedeutet es: Wenn man sich nicht kennt, dann beginnt der Hass. Wir wissen, mit welcher Leichtigkeit sich Vorurteile verwurzeln und allgegenwärtig verbreiten, während es kaum bis keinen Kontakt zwischen beiden Seiten gibt. Sobald aber jemand einen Menschen trifft, von dem er nur gehört hat, ist es plötzlich keine Idee mehr, sondern eine lebendige Person, die vor einem sitzt. Bei „Shalom Rollberg“ sind es alleine schon Aktivitäten wie das Helfen bei Hausaufgaben, das gemeinsame Spielen und Zuhören, welche zu mehr Offenheit gegenüber Ideen und Menschen führen. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns bei „Shalom Rollberg“ auf zwei Sachen: Kontakt und Bildung.

Bei „Shalom Rollberg“ bieten wir mehr als nur Kontakt und Bildung an. Wir setzen beides ein, um gegen Antisemitismus und andere Formen der Xenophobie anzukämpfen. Jüdische Alt- und Neu-BerlinerInnen, darunter viele aus Israel, engagieren sich im Rahmen von „Shalom Rollberg“ als ehrenamtliche MentorInnen. Jede Woche verbringen sie mindestens 1,5 Stunden mit ihren meist arabischstämmigen Schützlingen, helfen ihnen bei Hausaufgaben oder unternehmen etwas gemeinsam mit ihnen. Sie sind jedoch nicht nur NachhilfelehrerInnen und MentorInnen, sondern vor allem Vorbilder für sie. Darüber hinaus bieten jüdische GruppenleiterInnen beispielsweise Englisch-, Kunst- oder Kung Fu-Kurse für die Kinder und Jugendlichen aus dem Rollbergviertel an. Und schließlich ist „Shalom Rollberg“ Partner von PRiiL (Projekt der Regenbogenschule für interreligiöses und interkulturelles Lernen), in dem ich den vierten Klassen der örtlichen Grundschule jeden Montag von jüdischen Traditionen, Festen etc. erzähle und am Ende gemeinsam mit den Kindern eine Synagoge besuche.

Wir bieten qualitativ hochwertige Bildungsmöglichkeiten an, die Eltern und Kinder anziehen, die nach diesen Möglichkeiten suchen. Diese nutzen wir, um einen regelmäßigen Kontakt zwischen den Kindern und den jüdischen Freiwilligen herzustellen, die als TutorInnen fungieren.

[Das Buch "Goodbye Hate! Bildungsakteure und -akteurinnen gegen Antisemitismus" ist im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen und kann in dessen Onlineshop zum Preis von 12,90 Euro erworben werden (www.hentrichhentrich.de/buch-goodbye-hate.html). An diesem Mittwoch und Donnerstag (30.6. und 1.7.2021) veranstaltet das Dialogprojekt "Schalom Aleikum" eine zweiteilige Online-Jahreskonferenz (www.facebook.com/schalomaleikum) zum Motto des Buches „Goodbye Hate!". Themen sind (israelbezogener) Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit und Bildungsarbeit. Die Eröffnungsreden halten Annette Widmann-Mauz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie Mark Dainow (Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland) und Stephan Vopel (Bertelsmann Stiftung). Auch das Buch wird dort offiziell präsentiert. Mit dabei sind fünf Autorinnen und Autoren: Julia Bernstein, Jana Rosenfeld, Dua Zeitun, Mansur Seddiqzai und Yonatan Weizman.]

Niemand kommt zu uns, um Jüdinnen und Juden zu treffen. Das Gegenteil ist der Fall. Viele erwachsene jüdische Freiwillige haben den Wunsch, Musliminnen und Muslime zu treffen. Die Kinder kommen zu uns, weil sie Hilfe bei ihren Hausaufgaben benötigen oder Kung-Fu oder Modedesign lernen möchten (zwei von vielen Angeboten bei „Shalom Rollberg“). Unsere Erfahrungen im Bildungsbereich sind hier von Vorteil, denn wir begegnen damit den Kindern in ihrem alltäglichen Leben. Das Abbauen von antisemitischen Ressentiments geschieht nebenbei als Resultat von den Begegnungen. Es ist der positive und regelmäßige Kontakt zwischen den Kindern und Jüdinnen und Juden, der einen Unterschied macht.

"Er ist Israeli, aber er ist in Ordnung"

Nach meiner langjährigen Leitung des Programms, dem Engagement mit muslimischen Kindern, BildungsakteurInnen und GemeindeleiterInnen, fallen meine Aussichten auf die Zukunft von JüdInnen und MuslimInnen in Deutschland positiv aus. Oft erlebte ich Jugendliche, deren Äußerungen als antisemitisch wahrgenommen werden konnte, und die falsch ausgedrückte, politische Meinungen waren. Jedoch sehe ich es als eine positive Entwicklung, wenn die jungen Leute sich wohl fühlen, ihre Meinung respektvoll zu äußern. In den Sinn kommt mir ein 16-jähriges Mädchen, dessen Familie aus dem Libanon nach Deutschland kam, das sich selbst als eine „große Hisbollah-Unterstützerin“ beschrieb. Regelmäßig kam sie zu meinem Englischunterricht. Am Anfang hat sie mich nicht einmal angesehen, aber nach einer Weile fing sie an, Fragen zu stellen, über mich, meine Religion und die Nahostpolitik. Fragen, die mich zum Nachdenken angeregt haben. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie sie gestellt hat. Nie werde ich vergessen, wie sie im Unterricht eine Gleichaltrige mit den Worten zum Schweigen brachte: “Leise! Er ist Israeli, aber er ist in Ordnung.” Wir alle hoffen, mehr als nur “in Ordnung” wahrgenommen zu werden. Aber im Kontext der Identität und Situation ist das für sie schon ein großer und positiver Schritt nach vorne.

Wir alle kennen die NS-Vergangenheit Deutschlands, es ist aber die Zukunft, an der wir arbeiten sollten. Deutschland steht heute vor mehr Herausforderungen als jemals zuvor in seiner jüngsten Geschichte. Aber auch das sind Chancen. Besonders für den jüdisch-muslimischen Dialog, ein Austausch zwischen zwei marginalisierten Minderheiten, die so vieles gemeinsam haben. Hier und jetzt haben wir die Möglichkeit, in die Zukunft zu schauen und etwas Neues zu schaffen, das die gesamte deutsche Gesellschaft inspirieren würde.

Yonatan David Weizmann

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