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Bereit für die Hospitaller. Daniel in der Ukraine

© privat

Ukrainisches Kriegstagebuch (153): Tränen und Schreie

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Auf den meisten Fotos sehe ich ein wenig mürrisch aus, weil ich mich fast immer weigere, in die Kamera zu lächeln. Inzwischen stimme ich jedoch der verbreiteten Meinung zu, dass es schöner ist, wenn Menschen lächeln. Ich weiß genau, es fällt ihnen nicht immer leicht, so sorgenfrei auszusehen. Aber manche haben einfach das Talent dafür. So wie Daniel zum Beispiel. 

Wenn ich die Bilder von seiner letzten Ukraine-Reise anschaue, die er mir geschickt hat, fällt mir auf, dass er selbst wenn er nicht lächelt, dennoch irgendwie zu lächeln scheint, obwohl alles andere auf diesen Fotos dazu keinerlei Anlass gibt. Kann es daran liegen, dass er Schauspieler ist? 

Aber ist er überhaupt noch einer? Das frage ich ihn bei unserem Telefonat.  „Ich kann doch nicht einfach im Theater spielen, das wäre für mich gerade nicht das Richtige“, antwortet er, „nicht solange im realen Leben DAS geschieht. Ich weiß noch, wie es für mich angefangen hat. Als ich die Bilder aus der befreiten Butscha in den Nachrichten sah, habe ich plötzlich körperlich gespürt, dass mein Leben nicht mehr dasselbe bleiben würde. Ich heulte, ich schrie… 

Im Herbst kaufte ich mir dieses Buch von Serhij Zhadan, ,Der Himmel über Charkiw’, und als ich es zu lesen anfing, wurde mir klar - es ist an der Zeit zu handeln. Ich postete auf Facebook, dass ich dringend Kontakt zu Theatermachern und Künstlern in Charkiw suche. Seit 32 Jahren bin ich nicht mehr dort gewesen, aber mir war klar, ich muss jetzt dahin.”    

Im Winter dieses Jahres ist Daniel tatsächlich in die Ukraine gereist und hat in unserer gemeinsamen Heimatstadt Charkiw sowie in Kiew, Schytomyr und Lwiw Workshops für Theaterimprovisation gegeben. Dann hörte er von den Hospitallers - einem freiwilligen Sanitätsbataillon, das alles Erdenkliche tut, um an der Front Erste Hilfe zu leisten. 

Zu jenem Zeitpunkt hegte er den starken Wunsch, dem ukrainischen Militär von Nutzen zu sein, obwohl er keinerlei soldatische Erfahrung hatte. Die Idee der Hospitallers faszinierte ihn, also füllte er das Formular auf ihrer Webseite aus. „Ich schrieb, dass ich versuchen möchte, über die Hospitallers in Deutschland zu berichten, da man hier bis jetzt kaum etwas davon mitbekommen hat.“

So begab sich Daniel bereits zum dritten Mal dieses Jahr in die Ukraine. Heute erzählt er mir, was er gesehen und erlebt hat, er redet und redet, und ich möchte ihn nicht unterbrechen. Er war bei der Schulung der zukünftigen Hospitallers dabei, hat dort Menschen getroffen, die bereit sind, für drei, vier Wochen ihr normales Leben aufzugeben. Er lernte, verschiedene Raketentypen anhand des Gehörs zu unterscheiden. An seinem letzten Tag mit den Sanitäter*innen durfte er bei einer gefährlichen Mission dabei sein, bei der es darum ging, Verletzte zu bergen. Mir fällt es schwer, zu glauben, dass ich diese Geschichte nicht von einem aufgeregten Kinobesucher höre, der sich gerade einen dystopischen Actionthriller angeschaut hat. 

„Die Fahrstraßen sind im Arsch, das Fahren fühlt sich wie bei einer Achterbahn an. Dennoch sollte man sich trotzdem so schnell wie möglich fortbewegen, da darüber irgendwo Aufklärungsdrohnen fliegen. Man kann sie zwar nicht sehen, aber sie sind da, und falls sie dein Fahrzeug orten, dann senden die Russen sofort eine Rakete hinterher. Und man muss noch zusätzlich beachten, dass rechts und links von der Strecke alles vermint ist. Eine falsche Bewegung - und du riskierst dein Leben!”

Derzeit ist Daniel in Berlin, denkt jedoch darüber nach, bei seinem nächsten Ukrainebesuch an der Hospitaller-Ausbildung teilzunehmen, um sich dem freiwilligen Sanitätsbataillon anzuschließen.

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