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Ukraine-Veranstaltung auf der Leipziger Buchmesse.

© Kateryna Stetsevych

Ukrainisches Kriegstagebuch (131): Die Überlebende aus dem Schulkeller

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

29.3.2023
Früher standen sie in meinem Regal, doch bereits vor einiger Zeit landeten die Bücher von Eduard Limonow, die ich mir mit Anfang 20 gekauft hatte, im Keller. Heute vermisse ich sie gar nicht, auch wenn ich sie in meinen frühen Jahren in Deutschland gern gelesen habe.

Limonow kam auch aus Charkiw, wurde 1974 aus der Sowjetunion ausgewiesen, lebte in New York, schrieb dort seinen ersten Skandalroman und zog dann nach Paris, von wo aus er über seinen dekadenten Schriftstelleralltag berichtete. Dass es in Europa Literaturfestivals gibt, habe ich dank seiner Erzählung erfahren, in der er sich bei den Weltliteraturtagen in Nizza betrank und dabei seine Einsamkeit verfluchte.

An diese Geschichte muss ich kurz denken, als ich aus dem Fahrstuhl steige und feststelle, dass das ganze Foyer des Hotels, wo ich übernachtet habe, nur so von Schriftstellern, ihren Agenten, Kuratoren und Verlegern wimmelt. Einige von ihnen kenne ich persönlich, es sind viele Ukrainer*innen da. Was meine ukrainische Kolleg*innen beim Frühstück erzählen, steht in starkem Kontrast zu allem, was uns gerade hier umgibt.

Tagelange Reise nach Leipzig

Die Kaffeemaschinen brummen, ein Gast regt sich auf, weil es am Buffet keine Croissants mehr gibt, ein Kind lässt eine Schüssel Aprikosenkonfitüre auf den Boden fallen. Meine ukrainischen Tischnachbarinnen haben Tage gebraucht, um nach Leipzig zu kommen, weil es seit Februar 2022 keine Flüge aus der Ukraine gibt. Sie kommen aus Städten, die beschossen werden, wo Strom keine Selbstverständlichkeit ist. Ihre Ehemänner dürfen das Land nicht verlassen, manche kämpfen seit Monaten an der Front. Gegen 10 Uhr müssen sie los, sie haben heute Lesungen und Diskussionen bei der Leipziger Buchmesse.

Zusammen mit Ulrike Almut Sandig und Sascha Conrad vom Poesiekollektiv Landschaft machen Irena Karpa und ich uns auf den Weg zum Kunstkraftwerk, wo wir heute Abend spielen. Unser Auftritt ist der Abschluss eines Veranstaltungsmarathons zum Thema Ukraine, den die Bundeszentrale für politische Bildung organisiert hat.

Die Tontechniker versuchen, Ruhe zu bewahren, als ich ihnen den Konzertablauf erkläre. Es ist in der Tat nicht einfach – das Programm habe ich so zusammengestellt, dass die Musiker*innen und Dichter*innen mal solo, mal mit den anderen Kolleg*innen auftreten, kurz die Bühne verlassen und dann wieder zurückkehren. Sie alle zu mikrofonieren und darauf zu achten, wer, wann, nach wem und mit wem erscheint, ist eine Herausforderung.

Ich muss noch die Liedtexte wiederholen, die ich heute singe, und ein paar Stichpunkte aufschreiben, weil ich das Konzert auch moderiere. Mit meinem Notizblock bleibe ich in der Künstlergarderobe sitzen, komme aber immer wieder raus, um mir die anderen Veranstaltungen anzuschauen. Bei der ersten sitzen auf der Bühne neben der Friedensnobelpreisträgerin 2022 Oleksandra Matwijtschuk auch Svitlana Baranova, eine Tschernihiwer Volontärin, die im Programmflyer als „Zeitzeugin, Überlebende” bezeichnet wird. Hört man ihre Geschichte, glaubt man kaum, dass sie im 21. Jahrhundert stattgefunden hat.

Svitlana war eine der 367 Geiseln, die im Schulkeller des von der russischen Armee besetzten Dorfes Jahidne fast einen ganzen Monat verbringen mussten. Elf Menschen sind in dieser Zeit gestorben. Es fehlte an allem: Platz, Sauerstoff, Essen, Wasser, Windeln für Kinder sowie für Senioren. Statt Toilettenpapier gaben die russischen Soldaten ihren Gefangenen die in der Schule gefundenen Lehrbücher für die ukrainische Sprache und Literatur. Ich sehe, wie Menschen im Publikum weinen.

Es ist nicht einfach, heute Abend zu spielen, aber beim Konzert habe ich das Gefühl, dass unsere Songs nicht nur das Programm dieses Tages gut ergänzen, sie passen, direkt und indirekt, zu dem, worüber hier so lange gesprochen wurde. Sie sind kein Requiem, sondern eine Ode an die unbesiegbaren Ukrainer*innen von heute!

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