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Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, 68.

© Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag

Schiffbruch der Werte: Robert Menasses Roman „Die Erweiterung“

Nach seinem preisgekrönten Roman „Die Hauptstadt“ hat der österreichische Schriftsteller erneut einen turbulenten Europa-Roman geschrieben. In dessen Mittelpunkt: Albanien

Von Albanien hört man in letzter Zeit sehr viel. Das lang so unscheinbare, befestigt wirkende Land auf dem Westbalkan steht in den Charts weit oben. Vor allem den touristischen, von Geheimtipp kann da keine Rede mehr sein; aber auch den politischen: Albaniens Premierminister Edi Rama wird gerade, da die Beitrittsverhandlungen mit der EU in diesem Sommer nach langen dreizehn Jahren seit dem Einreichen von Albaniens EU-Bewerbung endlich begonnen haben, dieser Edi Rama also wird nicht müde zu betonen, wie groß die Sehnsucht seines Landes nach Europa ist, wie sehr es in die Union strebt und alles dafür tut, um die Auflagen zu erfüllen.

Den ultimativen Albanien-Roman zu diesem, wenn man so will: Hype, den hat jetzt der österreichische Schriftsteller Robert Menasse geschrieben. „Die Erweiterung“ heißt er, ein offensichtlicher, sprechender Titel. Es geht um die Erweiterung der EU, um Albaniens Beitritt. Hauptschauplatz des Romans ist Tirana, ein weiterer Brüssel, wo bekanntermaßen das EU-Parlament seinen Sitz hat.

Der Stoff ist dem 1954 in Wien geborenen Menasse gewissermaßen auf den Leib geschrieben. Seit über einem Jahrzehnt engagiert sich der Österreicher für Europa. In seinem Essayband „Der europäische Landbote“ plädierte er für ein nationenloses Europa mit einer Zentralregierung und vielen Regionen. Ein paar Jahre später schrieb Menasse mit „Die Hauptstadt“ einen Roman, der nicht zuletzt bewies, wie gut er sich in den Institutionen Brüssels auskennt. „Die Hauptstadt“ erzählt vom Schicksal einer ganzen Reihe von Menschen, die in Brüssel für die verschiedenen Institutionen der EU arbeiten, für die EEA, für Europol, für das EuGH, für die Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission.

Für „Die Hauptstadt“ bekam Menasse 2017 den Deutschen Buchpreis

Der ganze bürokratische Wahnsinn – allein diese abschreckenden Institutionsbezeichnungen! –, das so papieren erscheinende Interessengeflecht, das vor allem durch seine (immer wieder in Frage gestellte) Idee eines gemeinsamen Europas zusammengehalten wird, all das bekommt in „Die Hauptstadt“ Leben und Wirklichkeit. Zu Recht bekam Robert Menasse 2017 gleich auch den Deutschen Buchpreis für diesen Roman.

Einmal Europa verfallen, immer auf Europas Seite: Menasse ist sich treu geblieben. Nur hat er Region und Sujet gewechselt und sich an den Rand des Kontinents begeben. Hier spiegeln sich die widerstreitenden Interessen der Länder im Fall eines Beitrittskandidaten wie Albanien noch klarer und konturierter als in Brüssel. „Die Erweiterung“ beginnt jedoch in Wien, mit einer Szenerie im Kunsthistorischen Museum.

Hier nämlich ist der Helm des albanischen Nationalhelden Gjergj Kastrioti Skanderbeg ausgestellt, ein Helm mit Ziegenkopf auf dem Scheitel, wobei fraglich ist, ob Skanderbeg ihn je getragen hat. Eines Tages macht der junge Wächter der Rüstungskammer eine verblüffende Erfahrung: Der Helm, der wie so viele Objekte in der Kammer kaum der Beachtung wert und alles andere als ein Touristenmagnet ist, weckt ungewohntes Interesse. Innerhalb weniger Stunden verlieren sich gleich mehrere Menschen in seiner Betrachtung.

Politisch geeinte Albaner wären eine europäische Macht

Fate Vasa, eine der Figuren von Menasses Roman

Warum dem so ist, wird im Verlauf offensichtlich: Der Helm wird gestohlen, und dieser Diebstahl bringt die mitunter verwickelte Handlung ins Rollen. In deren Mittelpunkt: Albaniens Ministerpräsident und einer seiner Berater, der Dichter Fate Vasa. Dieser rät seinem Chef, nachdem Frankreich wieder einmal ein Veto gegen EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien eingelegt hat, den Helm als Symbol für das geeinigte Albanien zurückzufordern.

Für ein „Großalbanien“, das aus allen Albanern besteht, egal wo sie in Mittel- und Osteuropa leben, in Griechenland oder Italien, in Nordmazedonien oder in Kosovo: „Politisch geeinte Albaner wären, wie Fate Vasa erklärte, eine europäische Macht, und ihr Anspruch auf ein gemeinsames Territorium und Selbstbestimmung befände sich in Übereinstimmung mit den grundlegenden Axiomen der Charta der Vereinten Nationen, den Artikeln 1,2 und 55.“ Und, auch das flüstert der Dichter seinem Präsidenten ein: „Zweitens wäre es die beste Antwort an Brüssel. Du erinnerst sie daran, dass Skanderbeg der Beschützer des europäischen Christentums gegen die Osmanen war.“

Doch ein gestohlener Helm kann schwerlich zurückgegeben werden, und Robert Menasse inszeniert ein heiteres Verwechslungsspielchen mit einer zweiten Helmanfertigung durch die albanische Regierung. Beide Helme gehen durch so einige Hände und landen am Ende auf der SS Skanderbeg, einem Kreuzschiff und Vorzeigeprojekt des neuen Albaniens. Als es vom Stapel gelassen wird und seine Jungfernfahrt von Durres aus antritt, finden sich dazu europäische Spitzenpolitiker, hochrangige EU-Funktionäre sowie fast alle Figuren dieses Romans ein. Diese Schiffsreise ist das wahrlich großartige, knapp hunderseitige, überdies multiperspektivische und polyphone Schlusstableau des Romans.

Großes Figurenensemble, turbulente Handlung

Tatsächlich lässt Menasse in „Die Erweiterung“ ein großes Figurenensemble agieren; immer wieder wechselt er Perspektiven und Schauplätze und erzählt die unterschiedlichsten Lebensgeschichten. Beispielsweise die des EU-Beamten Adam Pradower, der mit seinem einstigen „Blutsbruder“ Mateusz abrechnen will. Mateusz hält von ihren gemeinsamen früheren Idealen gar nichts mehr; als Ministerpräsident Polens verfolgt er seine eigene, europafeindliche Politik.

Dann ist da der EU-Jurist Karl Auer, der sich in die albanische Regierungsabgeordnete Baia Muniq verliebt. Ihr Name rührt daher, dass ihr Vater ein halbes Jahr in München war und dabei Fan von Bayern München wurde; oder da taumeln durch den Roman zwei österreichische Kriminalbeamte, die den Helmen nachforschen. Oder Ismael Lani und Ylbere Lenz: Er ist ein weiterer Berater des albanischen Premiers, sie arbeitet als Journalistin, beide haben jeweils komplizierte Familiengeschichten, die zum Teil wiederum tief in die jüngere Historie Albaniens führen.

Robert Menasse verbindet all diese Porträts und Händel, in die die Figuren untereinander geraten, mit leichter Hand und einem Hang zum satirischem Unernst. Baia Muniq oder auch die Namenswitzchen, die er mit dem leiblichen Vater von Ylbere Lenz macht, mit Siegfried Lenz und seinen Deutschstunden in einem Lehrinstitut in Tirana, sind nur die auffälligsten Beispiele; auch wie der albanische Ministerpräsident eine französische Journalistin empfängt, oder wie Adam Pradower sich ein Hündchen anschafft und so seine Probleme mit dem Tier hat, sind große Lesespäße. Doch täuschen die vielen unterhaltsamen Elemente dieses Roman nicht darüber hinweg, wie ernsthaft Menasse seine EU-Agenda verfolgt, wie sehr es ihm ein Anliegen ist, die momentane Situation Europas kritisch zu illustrieren.

Hier der Wille zur Gemeinsamkeit, dort die Schwierigkeiten zusammenzukommen; hier ein Land wie Albanien mit seinen landestypischen Eigenwilligkeiten von den „Gesetzen der Ehre“ bis zur „Blutrache“, das unbedingt in die EU will, dort eins wie Polen, das als EU-Land im Grunde nationalistisch denkt und zunehmend autoritärer regiert wird.

Und: „Da ist die Karte der romanischen Länder, die kein Interesse an einer Osterweiterung haben, sie ist teuer und der Süden ist pleite, und mit den Förderungen für jedes neues Mitglied oder gar den ganzen Balkan vermindern sich die Förderungen für die Länder im Süden mit ihren Finanzproblemen. Das sehen Länder mit wachsenden Begehrlichkeiten natürlich anders, unterstützt von den Mitgliedstaaten, die im Gegensatz zum Süden, massive ökonomische Interessen haben, wie die deutsche Industrie oder die österreichischen Banken.“

Klar: Solche Sätze klingen leitartikelhaft. Erzählen und eine Handlung spinnen kann Robert Menasse besser; trotzdem ist „Die Erweiterung“ ein zutiefst politischer Roman in einem – mitunter sehr unterhaltsamen – literarischen Gewand. Dass das Kreuzfahrtschiff zu einer Todesfalle wird, aufgrund einer Epidemie an Bord, und nirgendwo einen Hafen ansteuern kann, auch nicht in den Ländern Nordafrikas, darf man gleichermaßen als Mahnung wie als Fatalismus verstehen: Europa, wohin treibst du? Die letzte Meldung von einem der Schiffdecks ist ein Fanal. Sie lautet: „Die europäischen We“. Doch was sind sie noch wert in einem zunehmend nationalistischen, von Egoismen beherrschten Europa?

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