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"Die Erwählten" von Steve Sem-Sandberg.

© promo

Roman "Die Erwählten": Das Leid der Schwächsten

„Der einzige Ort, den ich ein Zuhause nennen konnte“ – und die ganze Welt: „Die Erwählten“, Steve Sem-Sandbergs erschütternde Dokufiktion über die Wiener NS-Euthanasie-Klinik "Am Spiegelgrund".

Es klingt wie ein Versprechen: Erwählt, auserwählt zu sein, als „Die Erwählten“ bezeichnet zu werden, so wie Steve Sem-Sandbergs aufrüttelnder, erschütternder Roman über das Euthanasieprogramm der Nazis heißt. Aber von 1940 bis 1945 auf diesen Kinder- und Säuglingsstationen der sogenannten Heilanstalt in Wien zu den „Erwählten“ zu gehören, war gleichbedeutend damit, zum Tode verurteilt zu sein.

„Am Spiegelgrund“ hieß die Klinik, die die Nationalsozialisten 1940 auf dem Steinhof-Gelände für kranke, behinderte und schwer erziehbare Kinder einrichteten. Sie war „ein Aussonderungslager“, so heißt es in dem Buch, in dem „man die Schwachen unablässig von den noch Schwächeren trennte“. Oder auch: „Die letzte Station, die unterste Stufe der Treppe, wo nur die Verworfensten landen.“ Hier ermordeten die Nazis mindestens 789 Kinder, deren Leichenteile erst 1997 in einem verschlossenen Kellerraum unter den einstigen Obduktionssälen des Steinhofs gefunden und 2002 auf dem Wiener Zentralfriedhof begraben wurden.

Adrian Ziegler, einer der Helden in Sem-Sandbergs Dokufiktion, hat seinen über drei Jahre vom Januar 1941 bis Mai 1944 dauernden Aufenthalt auf dem Spiegelgrund überlebt. Er ist 11 Jahre alt, als er im Pavillon 9 landet. Die Behörden glauben, dass seine Eltern überfordert sind mit der Erziehung: die psychisch labile Mutter, „eine erbbiologisch minderwertige Person mit hysterischer Veranlagung“, wie es später heißt, und der alkoholkranke Vater. Dem Jungen wird in Folge von der Spiegelgrund-Ärzteschaft mehrmals attestiert, trotz normaler körperlicher und geistiger Entwicklung, „anlagebedingte starke Charakterstörungen“ zu haben, die „in grob abartige Richtungen steuern“. Sem-Sandberg erzählt, wie es Adrian auf dem Spiegelgrund ergeht, was er und seine Schicksalsgenossen dort erleben. Wie er zum Beispiel nackt vor Studenten vorgeführt wird; wie er Lumbalpunktion und Pneumoenzephalografie über sich ergehen lassen muss (was viele Kinder nicht überleben); wie er dreimal ausbricht. Und er erzählt auch, wie Adrians Leben nach 1945 verläuft, bis ins hohe Alter hinein.

Empathie für die Täterperspektive

Zieglers reales Vorbild für Sandberg war der 1929 in Frankreich geborene Friedrich Zawel. 1940 kam Zawel auf den Spiegelgrund, im Februar dieses Jahres starb er in Wien. Seine Geschichte ist eine der am besten dokumentierten Kindheiten im Wien der Nazizeit, er wurde zu einer Symbolfigur für die Opfer der NS-Diktatur. Sem-Sandberg begibt sich mit „Die Erwählten“ in das Innere von Zawel, gibt ihm in der Figur von Ziegler ein kindliches, mitunter schon reflektierendes Bewusstsein und lässt ihn sich – nach vielen Gesprächen mit Zawel – oft im Nachhinein erinnern und Sätze sagen wie „Der Spiegelgrund war der einzige Ort, den ich ein Zuhause nennen konnte“. Oder, und da spricht schon mehr der auktoriale Erzähler als seine Figur: „Der Spiegelgrund war in gewisser Weise die ganze Welt“.

Sem-Sandberg, 1958 in Oslo geboren, aber in Schweden aufgewachsen, ist 2011 mit „Die Elenden von Lodz“ berühmt geworden, einem Roman über das Schicksal der Juden im Ghetto von Lodz. Darin näherte er sich auf der Grundlage des historischen Materials der Geschichte dieses Ghettos mit poetischen Mitteln, insbesondere der des Judenältesten Chaim Rumkowski. Dieselbe Methode wendet er in „Die Erwählten“ an. Neben Ziegler gibt es Figuren wie dessen Leidensgenossen Hannes Neubauer oder die Krankenschwester Hedwig Blei, aus deren Perspektive das Geschehen geschildert wird.

Vor allem aber ist da, praktisch als Gegenpol zu Ziegler, die Täterperspektive repräsentierend, die Krankenschwester Anna Katschenka. Sie trägt in dem Roman, wie die gesamte Ärzteschaft, ihren realen Namen. Doch ähnlich wie bei Ziegler versucht Sem-Sandberg, sich fiktiv in ihre Gedankenwelt hineinzuversetzen, auch mit einer gewissen Empathie, ohne sie als das stellvertretende Böse zu verurteilen. Katschenka hat eine unglückliche Ehe mit einem jüdischen Hochstapler hinter sich, ist psychisch labil, neigt zu Depressionen und übertriebenen Schuldgefühlen. Nachdem sie auf dem Spiegelgrund landet, im Übrigen auch, weil sie sich in den Leiter der Klinik verliebt, entwickelt sie sich zu einer hartherzigen, „nur“ ihren Pflichten nachgehenden Krankenschwester. Sie weiß schon bald, was mit den Kindern geschieht, dass sie zum Tod verurteilt sind. Und sagt sich: „Auch Kinder, die als nicht lebenstauglich eingestuft worden waren, mussten schließlich regelmäßig gewaschen und gewindelt werden.“

Der bedrohliche Sog

Sandberg wechselt stetig zwischen den Perspektiven von Ziegler und Katschenka, streut die der anderen Figuren ein, wobei er selbst mal als auktorialer Erzähler agiert, dann wieder zum personalen Erzählstil übergeht. So wird das Panorama des Schreckens vollständig. Hier die T-4-Mordmaschinen in ihren weißen Kitteln (in der Berliner Tiergartenstraße 4 wurde damals das systematische Euthanasie-Programm geplant), die Klinikleiter Erwin Jekelius und diesem nachfolgend Ernst Illing, sowie ihre Oberärzte und Assistenten Hans Bertha, Marianne Türk, Heinrich Gross und Margarete Hübsch; natürlich auch die zahlreichen Krankenschwestern. Und dort die Kinder mit ihren unterschiedlichsten Gebrechen, nicht nur Ziegler, sondern viele andere, und auch die Eltern, die ihre Kinder mitunter vergeblich aus der Klinik herausbekommen wollen oder Tag für Tag vor dem Gelände ausharren und protestieren.

Es gibt in den fast zwanzig Großkapiteln des Romans zwar diverse Unterkapitel; und die dokumentarischen Passagen, Gerichtsverhandlungen, Anamnesen, Arztbriefe, persönliche Briefe sind kursiv abgesetzt. Doch Sem-Sandberg verzichtet ansonsten durchgängig auf Absätze, was den „ Erwählten“ eine hohe Intensität verleiht, einen bedrohlichen Sog. Dieser entsteht auch dadurch, dass sich Ziegler und Katschenka eindrückliche Bilder machen, unter Halluzinationen leiden, und Sem-Sandberg die Grenzen zwischen erzählter Wirklichkeit und dem von den Figuren Vorgestellten aufhebt.

Als alles vorbei zu sein scheint, scheitert Adrian Ziegler immer wieder daran, ein halbwegs normales, bürgerliches Leben zu führen. Diverse Mal landet er in Gefängnissen. 1975 holt ihn die Spiegelgrund-Vergangenheit endgültig ein. Ein Wärter führt ihn zu einem Gespräch mit einem „renommierten Rechtspsychiater“. Als der Wärter das Zimmer verlässt, stellt der Psychiater sich vor: „Mein Name ist Doktor Gross.“ Ein Schock für Ziegler, für den Leser: Gross ist einer jener Mordärzte vom Spiegelgrund, der Adrian oft untersucht und für lebensuntauglich befunden hat. Nach dem Krieg setzt er seine Karriere ohne Unterbrechung fort. Noch 1997, als es neue Beweismittel gibt, sagt Gross bei einer Vernehmung: „Ich habe nie direkt oder indirekt Handlungen vorgenommen, die zum Tod von Erwachsenen oder Kindern hätten führen können. Niemals. Ganz genau: niemals. Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich überhaupt an nichts.“ Steve Sem-Sandbergs beeindruckender Roman stemmt sich mit aller Macht und allen literarischen Mitteln gegen dieses individuelle, aber auch das kollektive Vergessen. Auf dass das Schicksal der Kinder vom Spiegelgrund auf ewig erinnert werden möge.

Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten. Roman. Aus dem Schwedischen von Gisel Kosubek. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 525 Seiten, 24, 99 €.

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