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Kunst, Propaganda und Leid. Leni Riefenstahl bei den Aufnahmen für ihren Film über die Olympischen Spiele in Berlin. Ertl entwickelte für sie viele neue Kameratechniken.

© AFP

Rodrigo Hasbúns Roman „Die Affekte“: Wie Soldaten auf Kriegssuche

Von München nach La Paz: Rodrigo Hasbúns Roman „Die Affekte“ über die Familie des Leni-Riefenstahl-Kameramanns Hans Ertl.

Bis zu viertausend Metern über dem Meeresspiegel erhebt sich an der Nordwestseite der Anden die bolivianische Kapitale La Paz. Europäern macht hier oft die Höhenkrankheit zu schaffen, so auch der Frau des Kameramanns, Bergsteigers und Hasardeurs Hans. Aurelia versucht ihrem Unwohlsein und dem Heimweh mit exzessivem Zigarettenkonsum beizukommen, was verheerende Folgen für sie hat. Mit ihren Teenager-Töchtern Monika, Heidi und Trixi sind Aurelia und Hans Ertl – deren Nachname Rodrigo Hasbún in seinem Roman „Die Affekte“ jedoch nicht nennt – Anfang der fünfziger Jahre aus dem kriegszerstörten München nach La Paz ausgewandert.

Hans Ertl, der 1908 geboren wurde, stammte vom Chiemsee und erlernte sein künstlerisches Handwerk bei Arnold Fanck, dem Meister des Bergfilms. Im Dritten Reich avancierte der offenkundig unerschrockene und willensstarke Bayer zum Lieblingskameramann Leni Riefenstahls und zum Leibfotografen von Erwin Rommel auf dessen legendenumwobenen Afrikafeldzug. Diese Abenteurer-Attitüde muss der 1945 politisch in Ungnade gefallene Ertl ungeschmälert nach Südamerika transponiert haben.

Leidenschaft des Autors für Tagebücher

Im Amazonasgebiet, für Alfred Döblin einst das „Land ohne Tod“, will Ertl nach der versunkenen Inkastadt Paititi suchen. Die älteren Töchter Monika und Heidi sollen ihn als Assistentinnen begleiten: „Wir trugen bereits die grüne Kluft für den Urwald, den wir mit jedem Schritt deutlicher spürten, vor allem wegen der Feuchtigkeit. Wir sahen aus wie verirrte Fallschirmjäger. Wir sahen aus wie Soldaten auf der Suche nach einem Krieg, wie interplanetarische Wesen.“

„Die Affekte“ ist der zweite Roman von Rodrigo Hasbún. 1981 im bolivianischen Cochabamba als Sohn einer palästinensischen Familie geboren, lebt Hasbún mittlerweile in Houston und gilt als einer der vielversprechendsten jüngeren spanischsprachigen Schriftsteller. Als ein Vorbild nennt er den argentinischen Autor und Kritiker Ricardo Piglia, der 327 Tagebuchhefte hinterließ. Bei „Die Affekte“ handelt es sich um ein chorisches Werk, um einen kunstvollen und trotz seines schmalen Umfangs unglaublich dichten Erzählteppich, der aus nicht immer leicht identifizierbaren Stimmen gewebt ist. In einem Interview für das Londoner Magazin „The White Review“ bekannte Hasbún seine Leidenschaft für Tagebücher und andere autobiografische Aufzeichnungen: „Mich interessiert weniger das dokumentarische Potential dieser Gattung als ihr literarischer Aspekt.“ Es sei ihm zupass gekommen, dass es über die Familie Ertl nur wenig Material gibt: „Dadurch musste ich alles selber erfinden, von Trixis erster Zigarette mit ihrer Mutter bis zu Monikas Hochzeitsnacht.“

Wen streift Hasbún als nächstes mit dem Scheinwerferkegel?

„Fortgehen, das war, was Papa am besten konnte“, resümieren die Ertl-Töchter, „fortgehen, aber auch wiederkommen, wie ein Soldat des ewigen Krieges, bis er Kraft geschöpft hatte, um erneut fortzugehen“. Skizzenhaft zeichnet Hasbún das Porträt einer bipolaren Familie, aufgerieben zwischen den egomanischen Persönlichkeiten des Vaters Hans und der ältesten Tochter Monika. Als Teenager hatte sie laut Heidi so heftige Wutattacken, dass sie manchmal festgebunden werden musste. Nach der Rückkehr von der desolat verlaufenen Filmexpedition heiratet Monika rasch einen wohlhabenden Landsmann und gründet eine Hilfsorganisation, da sie sich zu Hause langweilt. Sie, die Hasbún als einzige nicht direkt sprechen lässt, was sie umso rätselhafter macht, scheint sich erfolgreich in La Paz zu assimilieren, bis sie sich Hals über Kopf in ihren Schwager Reinhard verliebt. Der linke Arzt engagiert sich für die Rechte der Indios. Im Rückblick entfaltet sich aus Reinhards Perspektive eine Miniatur der Hörigkeit, denn er wird nie mehr von ihr loskommen: „Monika, zornig und glücklich, alles hinterfragend, Monika, leckend oder küssend oder stöhnend oder still und leise, die, die sie war, bevor sie die andere wurde, die Frau, die später alles Augenmaß verlor und sich nicht mehr im Griff hatte und am Ende sich selbst und anderen Leid zufügte.“

Diese verheerende Persönlichkeitsentwicklung verfolgt man beim Lesen, das durch den Perspektivwechsel verlangsamt wird, mit wachsender Spannung: Wen streift Hasbún als nächstes mit dem Scheinwerferkegel? Der Erzähler spricht Monika als „die Frau, die später so viel Leid verursachte“ in der Du-Form an. Das kulminiert an jenem 1. April 1971, als sie den bolivianischen Generalkonsul Roberto Quintanilla Pereira in Hamburg erschießt. Die Tatwaffe stammte von dem Mailänder Verleger Giangiacomo Feltrinelli. Monika Ertl, die sich als Rächerin Che Guevaras sah, wurde 1973 von bolivianischen Sicherheitskräften umgebracht; den entscheidenden Hinweis soll der NS-Kriegsverbrecher Klaus Barbie gegeben haben, den sie hatte entführen wollen.

Subjektiv gefärbte Wirklichkeitsausschnitte

Zwei Ideologen in Höhenluft: Roberto Hasbúns Roman „Die Affekte“ lässt sich als psychologisches Lehrstück darüber begreifen, wie die rechte Gesinnung des NS-Staatskünstlers Hans Ertl in die blinde linke Gewalt seiner Tochter umschlug, nach dem berüchtigten Motto „deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun“. Doch diese „mechanistische“ Lesart wird dem poetischen Vermögen des Romans nicht gerecht, der unentwegt zur eigenen Interpretation und Selbstbefragung anregt und gerade durch die Aussparungen mit eindrücklichen Bildern überrascht. Diese Wahrheitssuche auf diversen Fährten erinnert an J.M. Coetzees maliziöses „Tagebuch eines schlimmen Jahres“ von 2008. Darin bietet jede Seite Raum für drei Erzählerstimmen, die um die bissigen Notate eines alternden Schriftstellers kreisen. Dadurch liegen die Gedankengänge aller Beteiligten offen da, was die Lektüre zur Komplizenschaft werden lässt.

Wie Coetzee geht es Rodrigo Hasbún darum, die Realitätskonstruktion im Tagebuch nachvollziehbar zu machen, als subjektiv gefärbte Wirklichkeitsausschnitte für einen imaginierten Leser. Es ist Christian Hansens so eleganter wie formvollendeter Übersetzung aus dem Spanischen zu verdanken, dass die tragische Geschichte einer im wahrsten Sinne urdeutschen Familie nun auch hierzulande in Form eines Romans zu erfahren ist, der Politik und Poesie stimmig miteinander verbindet.

Rodrigo Hasbún: Die Affekte. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Suhrkamp, Berlin 2017. 144 S., 18 €.

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