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Die kanadische Schriftstellerin Emily St. John Mandel. Foto von Sarah Shatz/Ullstein

© Sarah Shatz/Ullstein

Porträt von Emily St. John Mandel: Die Zukunft in unserer Gegenwart

Emily St. John Mandel kommentiert mit ihrer preisgekrönten Science Fiction die Gegenwart. Angst bereitet der Kanadierin nur ihre Wahlheimat Amerika. Eine Begegnung in New York.

Von Ute Büsing

Sie beschreibt andere Welten so lebensnah, als befänden sie sich im Hier und Jetzt. Obwohl Menschen längst auf dem Mond siedeln und mit dem Raumschiff in sechs Stunden zur Erde rasen, erscheint das Jahr 2401 bei ihr so vertraut, wie das Jahr 1912. Diesen Rahmen umspannt Emily St. John Mandels sechster Roman „Das Meer der endlosen Ruhe“ auf knapp 300 Seiten.

Sie schickt einen Detektiv aus der Zukunft, Gaspery-Jacques Roberts, als Zeitreisenden auf die Suche nach einer Anomalie, die das Raum-Zeit-Kontinuum aus dem Gleichgewicht bringt. Mit ihm sind auch die Leser auf der Spur dieser mysteriösen „Simulationshypothese“.

„Es hat Spaß gemacht herauszufinden, wie viele verschiedene Genres sich durch diese eine wiederkehrende Figur zu einem kohärenten Narrativ verbinden lassen“, erzählt Emily St. John Mandel im Büro ihrer Literaturagentur nahe dem New Yorker Hauptsitz der Vereinten Nationen. „Science Fiction muss sich real und normal anfühlen. Es muss einem so vorkommen, als seien Mondfahrten nichts anderes als Berufsverkehr.“

Auf Barack Obamas Leseliste

Eigens für unser Gespräch sind alle ihre bisher erschienenen Romane in einem Regal im Konferenzraum drapiert. Schon einmal, mit „Station Eleven“ (2014), war der renommierte National Book Award für die auf den Punkt formulierende 44-Jährige in Reichweite. Ex-Präsident Barack Obamas empfiehlt John Mandel auf seiner vielfach zur Kenntnis genommenen „Sommerleseliste“. „Das Meer der endlosen Ruhe“ brachte es auch auf Platz 2 der New York Times Bestsellerliste.

Emily St. John Mandel verbindet Science-Fiction mit Elementen des historischen Romans und zeitgenössischer Belletristik zu einem so tiefsinnigen wie unterhaltsamen Trip durch Raum und Zeit. Der Zeitreisende Gaspary tritt glaubhaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Pfarrer, Journalist, Straßenmusiker und in weiteren Verkörperungen auf.

Wie in ihren Vorgängerromanen spiegelt die in Kanada geborene, in Brooklyn lebende Autorin wiedererkennbare Gegenwartsmenschen. In „Station Eleven“ nahm sie bereits hellsichtig eine Pandemie vorweg – mit hoffnungsvollem Ausgang. Als Covid Amerika vor drei Jahren lahmlegte, avancierte der Roman zur Pflichtlektüre.

Jetzt nimmt eine Krisensituation, die der zugespitzten Lage in New York City im März, April 2020 gleicht, den Mittelteil des Romans ein: Die Schriftstellerin Olive lebt in ihrem Apartment auf dem Mond in „Kolonie 2“ so sozial isoliert, wie es während der ersten tödlichen Welle der Pandemie für viele Menschen zur Überlebens-Übung wurde.

John Mandel verarbeitete die Lockdowns literarisch

Tatsächlich hat John Mandel hier ihre eigene Situation während des Lockdowns verarbeitet: „Massengräber, Kühlwagen vor den Krankenhäusern, der konstante Sirenenton der Rettungswagen in der Totenstille, das war alles so surreal und überwältigend, dass ich beim Schreiben dieses Romans Zuflucht gefunden habe“, erzählt sie. Mit dem Zeitreisenden Gaspary beamte sie sich selbst in vom Covid-Sterben entfernte Welten. „Eine Form von Eskapismus, klar, aber er hat mich im Gleichgewicht gehalten“, sagt sie heute.

Autofiktional sind auch die Romananteile, in denen John Mandel ihre Protagonistin auf eine schier endlose Lesereise quer durch Kontinente und Welten schickt; darin verarbeitet sie ihre epische Lesetour mit „Station Eleven“. In 14 Monaten summierten sich 127 Lesungen in sieben Ländern.

Science Fiction muss sich real anfühlen, als seien Mondfahrten nichts anderes als Berufsverkehr.“

Emily St. John Mandel, Autorin

„Ich hatte einen neuen großen Verlag und war bereit, alles für den Erfolg zu tun. Einzelne kuriose Begegnungen wollte ich irgendwie festhalten. Weil ich Rachel Cusks autofiktionale Methode schon immer bewundert habe, begann ich 2019 mit Erlebnissen meines Lesemarathons zu experimentieren.“

Aus diesen ersten autofiktionalen Entwürfen entstand in der Pandemie dann der neue Roman. Schon immer gehörten Elemente von Detektivroman und Thriller zu John Mandels „Multiversum“. Sie mag das Spiel mit literarischen Formen und ist überzeugt davon, dass die Mauern zwischen den Genres „längst eingestürzt sind“.

Als sie einen Verlag für ihren Erstling „Letzte Nacht in Montreal“ (2009) suchte, eine Mischung aus Gegenwarts- und Detektivroman, fing sich John Mandel in zwei Jahren 35 Ablehnungen ein, bevor der unabhängige Kleinverlag Unbridled Books sich des Stoffes annahm. Die nächsten zwei Romane erschienen ebenfalls dort.

„Das war finanziell desaströs und demoralisierend, trotz aller guten ernsthaften Arbeit, die Kleinverlage leisten“, sagt sie heute. 2012 lernte sie Patrick Somerville kennen, der ebenfalls als Kleinverlagsautor reüssierte. Ein Glücksfall, denn aus dieser Begegnung erwuchs die erfolgreiche Verfilmung von „Station Eleven“ als HBO-Max-Serie, für die Somerville das Drehbuch schrieb.

Inzwischen kriegt sie auch Aufträge aus Hollywood

Inzwischen ist auch Emily St. John Mandel im Filmfach zuhause. In einem Hollywood-typischen „Mini Room“ hat sie das Drehbuch für eine Verfilmung ihres fünften Romans „Das Glashotel“ mit entwickelt. Im Moment hängt das Projekt, auch wegen des anhaltenden Streiks der Drehbuchautoren. „Nach der Isolation im Lockdown habe ich Gefallen daran gefunden, mit anderen Leuten an einer gemeinsamen Geschichte zu arbeiten und nicht immer nur allein, im stillen Kämmerlein.“

Gerade arbeitet sie auch an einem neuen Roman, in dem sie den Bösewicht aus „Das Gewehr des Sängers“ wieder aufgreift und zum Protagonisten macht. Sie mag es, ihren einmal erfundenen Figuren „über einen Roman hinaus mehr Platz einzuräumen“.

Ich neige dazu, meinen Figuren Aspekte meiner eigenen Persönlichkeit und von mir nahen Menschen zu geben.

Emily St. John Mandel, Autorin

So begegnen einem auch in „Das Meer der endlosen Ruhe“ Menschen wieder – wie Mirella und Vincent, typische East Village Kunst-Szene-Gestalten, die in Vorgängern Kurzauftritte hatten. „Ich neige dazu, meinen Figuren Aspekte meiner eigenen Persönlichkeit und von mir nahen Menschen zu geben.“

Mit ihrer siebenjährigen Tochter lebt Emily St. John Mandel in Brooklyn. Die Mutter ist „höchst besorgt“ über die Schießereien an amerikanischen Schulen mit zahlreichen Todesopfern und dem trotzdem kaum reglementierten Umgang mit Schusswaffen. „Ich frage mich ernsthaft, wie ich meine Tochter in so einem, Angst einflößenden Land verteidigen kann. Ist es nicht schlechte Elternschaft, sie hier aufwachsen zu lassen?“

Mittlerweile lernen die Kleinen schon im Kindergarten, bei „Shooter Drills“, wie sie mit Amokläufen umgehen können, erzählt sie. Immer wenn sie besonders besorgt ist, fällt ihr wieder ihre kanadische Staatsbürgerschaft ein, die sie auch noch besitzt.

Und dann teilt Emily St. John Mandel noch eine nervige Auseinandersetzung mit Wikipedia. Darin verpackt: ihr queeres Coming Out. Als sie längst von ihrem Mann geschieden war, listete das Online-Lexikon sie weiterhin als verheiratet. Das irritierte ihre Freundin, mit der sie seit einem Jahr zusammen ist. Doch so einfach ließ sich der Eintrag nicht ändern.

Die Wikipedia-Redaktion verlangte ein Interview, das die Scheidung verbürgt. Mandel startete einen Twitter-Aufruf mit der Bitte um ein beglaubigendes Interview. Obwohl es kurz vor Weihnachten war, erklärte sich ein Journalist von „Slate“ zu einem Schnellschuss bereit – erst daraufhin wurde der Eintrag geändert. Kann sein, dass diese kuriose Episode demnächst als autofiktionale Variante Eingang in Emily St. John Mandels literarisches Werk findet.

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