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© Christiane Peitz

„Offen über die eigenen Wunden sprechen“: Preis der Tagesspiegel-Leserjury für „Une famille“

Christine Angot gewinnt mit „Une famille“, einem bewegenden Dokumentarfilm über das eigene Missbrauchs-Trauma, den Preis der Tagesspiegel-Leserjury in der Berlinale-Sektion Encounters.

Die Entscheidung fiel der Tagesspiegel-Leserjury nicht leicht. Doch nach einer meinungsstarken Diskussion und einem heißen Kopf-an-Kopf-Rennen stand der Gewinner unter den 15 Encounters-Filmen fest: „Une famille“, das Langfilm-Regiedebüt der französischen Schriftstellerin Christine Angot.

In der Dokumentation begleitet Angot, die als Kind sexuell missbraucht wurde, die Aufarbeitung ihres Traumas mit der Kamera. Die Zuschauenden sind dabei, wenn sie ihre leibliche Mutter und die Familie ihres verstorbenen Vaters und Vergewaltigers mit den Erlebnissen von damals konfrontiert.

„Ich hatte ein bisschen Angst vor diesem Film und wollte ihn eigentlich gar nicht sehen“, gesteht Jurorin Liz Vliegenthart. Trotz anfänglichem Misstrauen war die Niederländerin letztendlich diejenige, die am engagiertesten für den Film kämpfte. „Ich bin mit einem Gefühl der Hoffnung aus dem Kino gegangen“, sagt die 26-Jährige. Sie ist begeistert von der emphatischen Umsetzung der Regisseurin.

Auch Juror Torben Schläger nennt die Hoffnung als Grund, warum er die gemeinsame Entscheidung für „Une famille“ als richtig und wichtig erachtet. „Der Film kann andere Menschen ermutigen, offener über ihre eigenen Wunden zu sprechen“, sagt Schläger, Alumni der Filmuniversität Babelsberg.

Die Schriftstellerin Christine Angot wird zur Regisseurin und thematisiert in ihrem ersten Langfilm den Missbrauch durch ihren eigenen Vater.
Die Schriftstellerin Christine Angot wird zur Regisseurin und thematisiert in ihrem ersten Langfilm den Missbrauch durch ihren eigenen Vater.

© AFP/STEPHANE DE SAKUTIN

Ein Ansatz, den er an der gesamten diesjährigen Encounters-Reihe schätzt: „Ich war oft sehr gerührt von dem Mut, schmerzhafte Themen zu bearbeiten. Das zeigt, wie wichtig es ist, über Traumata zu sprechen, zu schreiben und sich künstlerisch mit ihnen zu befassen.“

Bei der Preisverleihung der unabhängigen Jurys am Samstagmittag konnte die 65-jährige Angot die Auszeichnung leider nicht persönlich entgegennehmen. An ihrer Stelle tat dies ihre Landsmännin Aurélie Godet, als Mitglied des Auswahlgremiums fürs Hauptprogramm, zu dem die Encounters-Reihe gehört. Angot habe nach ihrer Rückkehr nach Frankreich alle Hände voll zu tun, so Godet: Der Film startet dort bald in den Kinos. Hoffentlich trägt der Preis der Tagesspiegel-Leserjury in seiner Eigenschaft als Publikumspreis dazu bei, dass „Une famille“ auch hierzulande einen Verleih findet.

Christine Angot und Charly Clovis in Angots autobiografischem Dokumentarfilm.
Christine Angot und Charly Clovis in Angots autobiografischem Dokumentarfilm.

© Le Bureau Films/Rectangle Productions/ France 2 Cinéma

Angots filmische Reise, auf der sie gesellschaftliche Normen und familiäre Perspektiven im Umgang mit Kindesmissbrauch hinterfragt, überzeugte die Leserjury trotz der spärlichen Regie-Erfahrung der Schriftstellerin. Das „Rohe, Unartikulierte“, wie es auch Esther Buss in ihrer Tagesspiegel-Rezension beschreibt, mache den Film besonders nahbar, so die Jurymitglieder.

Oft ringt Angot vor der Kamera um Worte, zeigt sich getroffen von der Relativierung der jahrelangen Vergewaltigungen und verlangt doch unerbittlich, dass ihr Trauma anerkannt wird. „Es ist sehr besonders, dass sie so etwas Schreckliches überlebt hat und dann auch noch die Kraft aufbringt, einen Film darüber zu drehen“, sagt die Wahlberlinerin Liz Vliegenthart. „Und das, obwohl ihr immer wieder vorgeworfen wurde, sich alles nur eingebildet zu haben.“ Dennoch für sich einzustehen, das müsse man erstmal schaffen.

In der Jury-Begründung heißt es denn auch, Angot gebe „dem Publikum einen Funken der Hoffnung auf dem Weg der Heilung nach traumatisierenden Erfahrungen. Opfer und Überlebende werden oft zum Schweigen gebracht oder bleiben sich selbst überlassen.“ „Une famille“ zeige, „wie wichtig es ist, die eigene Geschichte zu erzählen und Anderen auf diese Weise eine Inspiration zu sein“. 

Ein Film, empowernd für Opfer von sexueller Gewalt, ein Thema, das immer noch viel zu häufig nicht ernst genommen wird: Da ist die Tagesspiegel-Leserjury sich einig.

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