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Der Frauenheld Rétif im Alter von 51 Jahren (1785). Porträt von Binet.

© Galiani Verlag

Neuübersetzung von Rétif de la Bretonne: Wahrheitssucher und Schuhfetischist

Casanova vom Lande. Die erotischen Memoiren des Romanciers und Buchdruckers Rétif de la Bretonne erscheinen in neuer Übersetzung.

An Selbstbewusstsein mangelte es dem großen Erotiker und Schuhfetischisten Rétif de la Bretonne jedenfalls nicht, als er seine Memoiren niederschrieb. Überwiegend geschah das in den letzten Jahren vor und während der Französischen Revolution. „Sein Zeitalter“ wollte der 1734 im burgundischen Provinznest Sacy geborene Buchdrucker und Romancier mit seiner Lebensbeichte „erleuchten“ – das damals ohnehin schon längst so betitelte Siècle des Lumières, das Zeitalter der Aufklärung. Ihm ging es um nichts Geringeres als die Wahrheit samt deren schonungsloser Darstellung.

Das war gegen Ende des 18. Jahrhunderts allerdings keine besonders neue oder originelle Idee. Jean-Jacques Rousseaus „Bekenntnisse“ waren bereits erschienen. Sie dienten Rétif – neben den berühmten „Confessiones“ des Augustinus – erklärtermaßen als Vorbild und nicht nur das: Er wollte sie übertreffen. Gut möglich, dass ihn Rousseaus kühne (und bald vielfach widerlegte) Behauptung, sein „Unterfangen“ sei ohne Beispiel und könne niemals nachgeahmt werden, provozierte und anspornte.

In der Tat ist Rétifs „Monsieur Nicolas“ ein bemerkenswertes Buch. Und ein ausschweifendes dazu. Rund 5000 Seiten haben die Erinnerungen dieses Vielschreibers, der an die 200 Bücher veröffentlichte, darunter die Romane „Der verführte Landmann“ und „Der Fuß der Fanchette“. Letzterer bewirkte, dass das Phänomen des Schuhfetischismus früher einmal Retifismus genannt wurde. So viele Seiten wie Rétif benötigte nicht einmal der knapp zehn Jahre ältere Giacomo Casanova für seine weitaus weltläufigere Lebensbeschreibung, die etwa zeitgleich entstand. Der Übersetzer Reinhard Kaiser hat sich klugerweise auf eine Auswahl von gut 600 Seiten beschränkt. Übrig geblieben ist immer noch ein dicker Wälzer, der Rétifs Erinnerungen von den Kindertagen an über seine Lehrzeit als Drucker, die anschließende Karriere als Autor, eine heikle Heirat und seine Aufenthalte in Paris bis ins Jahr 1797 enthält, eine Zeit der Krankheit und Einsamkeit.

Heute wäre Rétif eher "Frauenversteher"

Wie Casanova war auch Rétif ein Frauenheld. So schillernd abenteuerlich wie im Leben des berühmt-berüchtigten Venezianers geht es bei Rétif nicht zu. Er ist eher ein Casanova vom Lande, der sich meist an Hausmädchen und Prostituierte hält. Minutiös schildert auch der burgundische Provinzler seine zahllosen Eroberungen, ohne sein Liebesleid zu verleugnen – als Gespenst der Vergangenheit überschattet die Jugendliebe Jeanette fast jede seiner Affären. Sein Opus magnum trägt den signifikanten Untertitel „Das enthüllte Menschenherz“.

Heftiger zur Sache geht es in seiner „Anti-Justine“, einem durchaus pornografischen Gegenentwurf zum Hauptwerk des Marquis de Sade, den Rétif auch in „Monsieur Nicolas“ attackiert, weil dieser „die Wonnen der Liebe immer und ewig nur in Begleitung von Folter und Mord“ darzustellen vermochte. Heute würde Rétif wohl eher als „Frauenversteher“ wahrgenommen werden wollen, wobei stark zu bezweifeln ist, dass er damit Erfolg gehabt hätte.

Schmuddelbücher wie die „Anti-Justine“ gab es im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts zuhauf. Zu den berühmtesten zählt „Der gelüftete Vorhang“, der bislang dem revolutionären Schriftsteller Mirabeau zugeschrieben wurde, aber auch von Rétif de la Bretonne hätte geschrieben werden können. Den trieben übrigens auch soziale Gedanken und solche über die Stellung der Frau um. In seiner Abhandlung „Le Pornographe“ etwa entwickelt er Ideen zur Reform der Prostitution. Für die einen galt er deshalb als „Voltaire der Kammermädchen“ (Jean-François de La Harpe) oder „Rousseau der Gosse“ (Friedrich Melchior Grimm). Andere schätzten immerhin „Monsieur Nicolas“. Schiller etwa. Oder Goethe.

Allgemeine innere Wahrheit

Vor allem aber Wilhelm von Humboldt, der dem 1806 Verstorbenen in Paris noch persönlich begegnet war und in Bezug auf dessen tönenden Anspruch, nichts als die Wahrheit zu verkünden, einiges zu relativieren hatte: „Man kann es keine Dichtung nennen, auch dem Verfasser kaum einmal Dichtungsvermögen darum zuschreiben. In der Tat scheint er dessen nicht viel zu haben. Auf der anderen Seite halte ich freilich auch die historische Wahrheit wenigstens nicht durchaus für streng.“

Humboldt spricht davon, dass Rétif „Begebenheiten erdichtet und hernach steif und fest glaubt“. Was er an dessen Erinnerungsbuch schätzt, ist dagegen „die allgemeine innere Wahrheit“. Darauf kann man sich einigen.

Rétif de la Bretonne: Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz. Aus dem Französischen von Reinhard Kaiser. Galiani Verlag, Berlin 2017. 720 Seiten, 38 €.

Tobias Schwartz

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