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Stippvisite in Europa. Der US-Emigrant Thomas Mann und seine Frau im Juni 1949 am Flughafen in Zürich. Vier Jahre später ließ er sich dauerhaft in der Schweiz nieder.

© akg/Keystone

Literatur und Exil: Nachrichten der wunden Seele

Eine Entdeckung: Hermann Stresau und Anna Haag in ihren Tagebüchern aus Nazi-Deutschland.

Als Thomas Mann 1949 nach Deutschland reiste, um den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt entgegenzunehmen, hagelte es Schmähbriefe und Beschimpfungen. Mann war zur Symbolfigur des Hasses geworden – vor allem für einige der Schriftsteller, die während der NS-Zeit in Deutschland geblieben waren und mehr oder weniger große Distanz zum Regime gezeigt hatten. Exilschriftsteller wie Mann hätten der „deutschen Tragödie“ von den „Logen- und Parterreplätzen des Auslands“ zugeschaut, so der Vorwurf, den Frank Thiess bereits 1945 öffentlich formuliert hatte.

„Innere Emigration“ war sein Beitrag überschrieben. Das Sprachbild verweist auf eine Abwesenheit ohne Auswanderung, auf die Flucht in ein geistiges Exil. Wohl fälschlich hat sich Thiess die Erfindung des Bildes zugute gehalten. Den zweifelhaften Ruhm, es zu einem kulturpolitischen Schlachtruf erhoben zu haben, darf er hingegen beanspruchen: Die selbsternannten „Inneren Emigranten“ stehen nach Thiess den „feigen“ Emigranten gegenüber, die Deutschland nach 1933 verlassen haben.

Die Kontroverse um die „Innere Emigration“ war in vollem Gange, als der Bibliothekar und Schriftsteller Hermann Stresau 1948 Auszüge aus seinen Tagebüchern aus der NS-Zeit publizierte. Ein literarischer Erfolg war das Buch nicht; die Literaturgeschichte hat es, wie seinen Autor, fast vergessen. Umso verdienstvoller ist es, dass Klett-Cotta nun eine aus dem Archiv erweiterte Neuauflage bringt. Der erste Band, der die Jahre 1933 bis 1939 umfasst, ist soeben erschienen, der zweite, der die Jahre 1940-1945 umfasst, ist für den Herbst angekündigt.

[Hermann Stresau: Von den Nazis trennt mich eine Welt. Tagebücher aus der Inneren Emigration 1933-1939. Klett-Cotta, Stuttgart 2021. 448 S., 24 €.

Anna Haag: Denken ist heute überhaupt nicht mehr in Mode. Tagebuch 1940 - 1945. Reclam, Stuttgart 2021. 448 S., 35 €.]

Stresau, 1894 in Milwaukee geboren, kam als Kind nach Deutschland. Später studierte er Germanistik, nahm als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg Teil, arbeitete ab 1929 als Bibliothekar an der Spandauer Volksbücherei. In seinen Tagebüchern kann man nachlesen, wie er den Posten bereits im April 1933 verlor.

Schmale Einkünfte

Eine Zeitlang wurde er noch als Dozent an der Bibliothekarsschule eingesetzt. Auch damit hatte es 1934 ein Ende. Stresau lebte von einer Erbschaft – und den schmalen Einkünften als freier Schriftsteller und Übersetzer. Über die Prozesse des Schreibens und Publizierens gibt das Tagebuch einigen Aufschluss: Über Aufträge und Verlagsverhandlungen, über Begegnungen oder literaturpolitische Interventionen.

An der Vorstellung eines ‚geistiges Refugiums' lässt Stresaus Tagebuch Zweifel aufkommen. Zwar notierte er noch im September 1934, dass sich publizieren lasse, „ohne der NS-Ideologie Zugeständnisse zu machen“ – ein Satz der immer wieder zitiert wurde. Jedoch vermerkte er am gleichen Tag auch, wie die herrschende „Atmosphäre“ alles vergifte, die „normalen geistigen Funktionen“ störe.

„Von Jahr zu Jahr“ – unter diesem schlichten Titel erschien Stresaus Tagebuch 1948. Die Neuausgabe titelt dezidierter und politischer: Ein Zitat aus dem ersten Jahr markiert die Distanz zum Regime, während Untertitel wie das Nachwort Stresau im Umkreis von Thiess’ kampfeswütigen „Inneren Emigranten“ situieren – und in Opposition zu Thomas Mann. Trifft das zu?

Die Tagebücher zeigen einen Autor, der die Nazis verachtet. Mit Ekel registrierte Stresau, wie Arnolt Bronnen oder Gottfried Benn sich dem neuen Regime andienten. Trocken analysierte er Hitlers propagandistische Rhetorik. Die Aufzeichnungen legen aber auch die Ambivalenzen eines Autors offen, der noch 1936 notierte, dass Hitler mit mancher Politik „inhaltlich recht“ habe. Über in die Emigration gezwungene Autoren schrieb er dagegen abschätzig, über die „Heinrich Manns, Tucholskys, Kerrs und Konsorten“.

Gegner des Völkischen

In starken Gegensatz zu Thomas Mann dürfte Stresau sich dennoch nicht bringen lassen. 1963, kurz vor Stresaus Tod, erschien aus seiner Feder ein biografischer Essay über Mann, den, wie es darin heißt, „unversöhnlichsten Gegner des völkisch verengenden Nationalsozialismus“. In Sachen Emigration äußerte sich Stresau da deutlich: Für Mann sei sie das „Ergebnis einer klaren Alternative zwischen Sein und Nichtsein“ gewesen.

Was hätte Thomas Mann getan, wenn er Deutschland nicht rechtzeitig verlassen hätte? Diese Frage stellt Anna Haag in ihren Tagebüchern aus den Jahren 1940-1945, die jetzt bei Reclam vorliegen. „Ich habe Thomas Mann gehört. Sehr gut war es“, notierte sie im März 1943. Einen Monat früher heißt es über die BBC-Reden Manns und anderer: „es ist das, was ich denke, was ich fühle, wie ich mich zur Welt einstelle.“ Weiter liest man: „Aber was die meisten deutschen Menschen sagen, das macht mir physisch übel.“

Anna Haag, 1888 geboren, wurde wie vielen Frauen der Zugang zu Bildung nur rudimentär gewährt. In der Weimarer Republik war sie als Journalistin, Schriftstellerin und Politikerin aktiv. Nach 1945 engagierte sie sich in der Stuttgarter SPD für den Neuaufbau, wurde als Delegierte in die verfassungsgebende Landesversammlung und später in den Landtag gewählt. Im Tagebuch sehnte sie die deutsche Niederlage herbei – und antizipierte die Schwierigkeiten demokratischer Erziehung.

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Instruktiv sind die Publikations- und Editionsgeschichten: Anna Haag, die ihre Aufzeichnungen bereits 1945 für die Veröffentlichung vorbereitete, konnte in der frühen Nachkriegszeit keinen Verleger finden, später nahm sie Auszüge in ihre Autobiografie auf. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit bekamen die Tagebücher 2016, als der britische Germanist Edward Timms seine Monografie vorlegte, die mittlerweile auch auf deutsch erschienen ist: „Die geheimen Tagebücher der Anna Haag“. Am Projekt wirkte Jennifer Holleis seit 2012 mit, die jetzt die Reclam-Ausgabe besorgt hat.

Für die Publikation griff Holleis auf das Typoskript zurück, das Anna Haag aus den handschriftlichen Aufzeichnungen erstellt hatte. Eine editorisch unkonventionelle Entscheidung haben dagegen die Herausgeber der Tagebücher Stresaus getroffen: Als Textgrundlage diente ihnen die 1948 publizierte Fassung, eine gekürzte und leicht überarbeitete Version. Ergänzt wurde sie um die gestrichenen Passagen, ohne dass diese Zusätze in irgendeiner Form markiert worden wären. Zudem wurden Namen, die Stresau unkenntlich gemacht hatte, im Text ausgeschrieben. Editorisch ist das ein Durcheinander, für das auch die Kommentierung nicht entschädigt.

Hendrikje Schauer

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