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Bandmitglieder und Avatare: Kraftwerk in der Neuen Nationalgalerie.

© dpa / Jens Kalaene

Kraftwerk in Berlin, das 6. Konzert: Electric Café: Housebeats und Blubberbässe

Mit alternden Avataren: Kraftwerk spielen an acht Tagen jeweils ein Album und mehr in der Neuen Nationalgalerie. Wir schreiben zu jedem Auftritt eine Konzertkritik. Heute Jörg Wunder über "Electric Café".

Von Jörg Wunder

Als 1986 das nach der bereinigten Diskografie sechste Kraftwerk-Album „Electric Café“ erschien, glaubten viele eine Band zu hören, die ihren Zenit überschritten hatte. Soundtechnisch hatte sich während der unerhörten Pause von fünf Jahren seit dem innovativen Konzeptwerk „Computerwelt“ nicht allzu viel getan. Die Band hatte sich im Systemwechsel zwischen analoger und digitaler Aufnahmetechnik verzettelt, zudem wirkte sich Ralf Hütters zunehmend diktatorischer Führungsstil in Kombination mit seiner neu entdeckten Leidenschaft, dem Rennradfahren, nicht förderlich auf den kreativen Prozess aus. Vor allem aber hatte sich seit 1981 die Popszene massiv verändert. Synthiepop, die von Kraftwerk maßgeblich initiierte Spielart populärer Musik, hatte einen Siegeszug um die Welt angetreten.

Von Kraftwerk beeinflusste Bands wie Depeche Mode oder Human League waren längst größer (und produktiver) als ihre Vorbilder, und auch die von Kraftwerk angestoßenen Entwicklungen in der Black Music ließen – man höre etwa Herbie Hancocks Science-Fiction-Funk „Rockit“ (1983) – die deutschen Elektrogroßväter alt aussehen. So bekamen die sechs Stücke von „Electric Café“ zunächst wenig Zuspruch, das Album blieb auch nach der Überarbeitung und Umbenennung in (den ursprünglich geplanten) Albumtitel „Techno Pop“ im Jahr 2009 das wenig geliebte Stiefkind im Kraftwerk-Katalog.

Beinahe glaubt man, die Band selbst teile diese Einschätzung, denn beim „Techno Pop“-Abend der Kraftwerk-Konzertoktologie widmen sie sich zunächst nur eine klägliche Viertelstunde lang dem inhaltlichen Leitmotiv des Auftritts. Tatsächlich kann weder „Electric Café“ mit seinen minimalistisch tickernden Synthesizerlinien und konturarmen Blubberbässen noch das durch Housebeats sanft modernisierte, von Hütter blechern geschnarrte „Der Telefon-Anruf“ überzeugen, da helfen auch die putzigen 3-D-Visuals mit ihren rührenden Anachronismen wenig. „Sex Objekt“ ist dann der frühe, aber auch einzige Tiefpunkt des zweistündigen Auftritts, denn die unfreiwillige Komik von Textzeilen wie „Du machst mich an und gehst dann weg“ wird durch ein synthetisches Streichermotiv, das man 1986 eher bei Falco vermutet hätte, nicht eben abgemildert.

Kraftwerk mit alternden Avataren

Vielleicht also gar keine schlechte Idee, dass die Band schon jetzt den bewährten Best-Of-Block mit dem charakteristischen Volkswagen-Motorstart von „Autobahn“ einläutet. Die modernisierte und auf knapp zehn Minuten gestutzte Remixversion entfaltet zwar nicht die krautige Magie des Originals, ist aber dennoch ein sagenhaft guter Popsong, den auch Hütters etwas neben dem Beat liegender Gesang nicht beeinträchtigt.

Nun folgt ein umjubelter Klassiker dem nächsten, vom eher mit der Brechstange zur Anti-Atom-Hymne umgewidmeten „Radioaktivität“ über das kurios bebilderte „Spacelab“ (in dem eine Untertasse wie aus einem Ed-Wood-Film vor der Nationalgalerie landet), die wunderbar romantischen Proto-Synthiepop-Klassiker „Das Modell“ und „Neonlicht“ bis zu dem einst wenig erfolgreichen, in der druckvollen Konzertversion aber mitreißenden „Tour de France“, bei dem der Radsportnarr Hütter tatsächlich ein wenig Emphase in seinen Gesang zu legen scheint. Fehlt noch was? Natürlich der schnuffelige „Trans Europa Express“ und das wunderbar nostalgische Puppenballett zu „Die Roboter“, bei dem man sich mit leichtem Schaudern fragt, ob die den Bandmitgliedern nachgebildeten Avatare eigentlich mit ihren Vorbildern mitaltern. Zumindest graue Haare scheinen die einst schwarz beschopften Kunststoffgeschöpfe inzwischen auch bekommen zu haben.

Die zweite Zugabe schlägt dann die Bogen zum Konzertbeginn, indem Kraftwerk den fehlenden Rest von „Techno Pop“ nachliefern. Aber was heißt schon Rest: Mit der damaligen Album-Seite eins, bestehend aus dem Song-Triptychon „Boing Boom Tschak / Techno Pop / Musique Non Stop“, antizipierten Kraftwerk nicht nur die Soundästhetik, sondern auch Arbeitsweisen der elektronischen Musik der Neunziger, indem sie die Stücke modulierten, variierten, ineinander blendeten und den Remix gleich noch mitlieferten. Live funktioniert das Ganze sogar noch viel besser als 1986 auf dem missverstandenen Album.

Den krönenden Abschluss hat sich Ralf Hütter reserviert

Spätestens hier wird auch die Frage geklärt, ob die vier mit zumeist minimaler Motorik hinter ihren ominösen Konsolen verharrenden Musiker wirklich an der Verfertigung der Liveklänge beteiligt sind - oder ob sie womöglich nur so tun, als ob. Denn zum Finale dürfen nacheinander, von rechts nach links ihrem Platz auf der Bühne folgend, der statuarisch-grüblerische Falk Grieffenhagen, der rüstig-seniorenhafte Fritz Hilpert und der gruftig-dynamische Kahlkopf Henning Schmitz ein paar energische Solosignaturen in den elastischen Klangkorpus fräsen und dann unter großem Applaus abtreten.

Den krönenden Abschluss hat der Chef natürlich für sich selbst reserviert. Ralf Hütter macht kein großes Ding daraus, rollt noch ein paar flächige Synthieschörkel aus und das war's. Beziehungsweise nicht ganz, denn sein Abgang, jubelumtost, beweist dann doch, dass hier ein auf die 70 zugehender Mensch am Werke war und kein Roboter. So formvollendet wie er verbeugt sich sonst höchstens noch Max Raabe, und als er die Hand dorthin legt, wo bei uns Menschen das Herz sitzt, glaubt man sogar ein wenig Rührung in seinen Zügen zu erkennen.

Lesen Sie morgen: Christian Schröder über „The Mix“. Um alle Kraftwerk-Kritiken zu lesen, klicken Sie bitte hier.

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