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Blick in den Zuschauerraum der Berliner Philharmonie

© dpa/Annette Riedl

Kolumne „Der Klassiker“ (Folge 41): Achtung, hier kommt die Psst-Polizei

Natürlich wird unter Klassikfans nicht geredet, wenn Livemusik erklingt. Aber wie früh vor dem ersten Ton muss man in andächtige Stille verfallen? Da prallen Meinungen aufeinander.

Eine Kolumne von Frederik Hanssen

Jetzt ist es mir schon das zweite Mal innerhalb von kurzer Zeit passiert. Beim Saisoneröffnungskonzert der Berliner Philharmoniker saß ich neben einem Kollegen, den ich schon lange kenne, und mit dem ich entsprechend viel zu bereden hatte. Als die ersten Musikerinnen und Musiker die Bühne betraten, drehte sich ein Herr aus der Reihe vor uns um und sagte streng: „Ihr werdet ja jetzt wohl…“

Warum er uns duzte, war mir schleierhaft, was er meinte, dagegen sonnenklar: Ruhe jetzt! Genauso hatte es sich Ende Juni in der Waldbühne zugetragen, wiederum bei den Philharmonikern: Da zeigte sich eine Dame ungehalten über die Konversation, die ich bis kurz vor Konzertbeginn mit einem Freund zu meiner Rechten führte.

Vorauseilender Gehorsam

Nun bin ich ja selbst ein Verfechter überlieferter Konzert-Konventionen. Ich schaue gerne auf befrackte Instrumentalisten, steigere meine Vorfreude dadurch, dass auch ich mich festlicher kleide als im Alltag. Ich komme gut aus ohne immersiven Schnickschnack, brauche weder Lightdesign noch assoziative Videobilder, keine Augmented-Reality-Brillen und auch kein stilistisches Crossover. Fantastisch gespielte Meisterwerke aus Geschichte und Gegenwart reichen mir völlig.

Das Verhalten der beiden ehrenamtlichen Mitglieder der Psst-Polizei finde ich dagegen befremdlich. Selbstverständlich rede ich nicht, während Livemusik erklingt, aber warum sollte ich bereits lange vor dem ersten Ton in kunstreligiöse Stille verfallen? Das wirkt für mich wie vorauseilender Gehorsam angesichts des sinnvollen Schweige-Gebots während der Aufführung.

Vor genau 60 Jahren, bei der Einweihung der Philharmonie, erklärte Kultursenator Adolf Arndt, worin der „Doppelsinn“ dieses neuartigen Konzertsaales liegt, bei dem das Publikum dem Orchester nicht gegenübersitzt, sondern sich um Kreis um die Musik gruppiert: „Dieser Raum antwortet auf unsere zwiespältige Sehnsucht, allein bei sich selbst zu sein und sich zugleich als Mensch im Gefüge der Gemeinschaft zu bewähren, die uns aus der Verlassenheit befreit.“

Glücklich, wer dabei einen Gesprächspartner hat, mit dem er das Erlebte teilen kann.

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