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Rösingers Singstück mit illustren Gästen sprüht vor Einfällen. Und kommt ohne einen Durchhänger aus.

© Christoph Voy

Indie-Ikone im HAU: Christiane Rösinger klärt die Klassenfrage

In dem furiosen Singspiel „Die große Klassenrevue“ sorgen die Theatermacherin und ihre Gäste für ordentlich roten Rummel. Befeuert von echtem Zorn auf die Verhältnisse.

Warum gibt es heute eigentlich kaum noch Theaterschaffende, die von Parteien angeheuert werden? Um zum Beispiel ein bisschen Wumms in Wahlkämpfe zu bringen, die ja doch meistens undramatisch bis dröge vor sich hindümpeln?

Vor 99 Jahren war das noch anders. Als der große Theaterarbeiter Erwin Piscator 1924 in den Berliner Sälen seine „Revue Roter Rummel“ aufführte, geschah das im Auftrag der KPD, im Vorfeld der Reichstagswahlen, explizit zu Agitationszwecken. Den Überlieferungen zufolge war sowohl die Arbeiterschaft im Publikum, als auch diejenige, die Piscator sich als Fan von nichtprofessionellen Darsteller:innen auf die Bühne geholt hatte, rundum begeistert.

Wo die rote Fahne weht

Jetzt weht die rote Fahne wieder auf der Bühne, und zwar im HAU 1. Allerdings nicht auf Initiative der gegenüber residierenden SPD und auch sonst ohne erkennbare parteipolitische Unterstützung. So ändern sich die Zeiten. Die Musikerin, Autorin und Theaterkünstlerin Christiane Rösinger, die an gleicher Stelle bereits das Immobilien-Spekulanten-Spektakel „Stadt unter Einfluss“ und die feministische Sciencefiction-Extravaganza „Planet Egalia“ inszeniert hat, beruft sich mit ihrem jüngsten Singspiel „Die große Klassenrevue“ zwar ausdrücklich auf Piscator.

Muss allerdings den Realitäten einer seit dessen Tagen stark geschwundenen kommunistisch-proletarischen Lobby und eines generell verkümmerten Klassenbewusstseins ins Auge blicken. Was dem Abend wiederum das Quäntchen Empörung einimpft, von dem anständiger Agitprop ja lebt.

Herr Merz und Frau Schmitt von der Kasse

Rösinger und ihre erprobten Mitstreiter:innen – darunter Sila Davulcu, Doreen Kutzke, Julie Miess, Minh Duc Pham und Andreas Schwarz – veranstalten unverdrossen ihren eigenen roten Rummel. Und wie es sich für linkes Theater gehört, wird dabei erstmal die Sprecher:innen-Position geklärt. Wer hat eine unbefleckte Biografie als Arbeiter:innen-Kind vorzuweisen, wer entstammt dem Akademiker:innen-Milieu?

Rösinger selbst geht als Mädchen vom katholischen Lande, für das allenfalls der Realschulabschluss vorgesehen war, mit großen Schritten voran. Soviel Herkunfts- und Prägungs-Distinktion muss sein in einer Zeit, in der sich eigentlich alle der Mittelschicht zurechnen und dort auch schon immer zu Hause gewesen sein wollen. Vor allem die Vielverdienenden, die gern als solche unsichtbar bleiben. Zum besseren Verständnis erklärt ein Song: „Friedrich Merz und Frau Schmitt an der Kasse sind vielleicht doch nicht in einer Klasse“.

Ein Kessel Klassenkampf

Es geht bis hin zum Vorhang sehr brechtisch zu in dieser „Großen Klassenrevue“, die überwiegend in Reimen performt wird („Guten Abend, liebe Gäste, wir unterhalten euch aufs Beste!“) und musikalisch mit Eigenkompositionen und Überschreibungen von Evergreens wie „Qué será, será“ oder „Eternal Flame“ von den Bangles aus dem Vollen schöpft (in der Leitung von Laura Landergott und Paul Pötsch, die zusammen mit Albertine Sarges auch die Live-Band des Abends stellen). Die Nummern dieser Sause schnurren ohne Durchhänger und vor begeisterungsfähigem Publikum ab, einmal erhält sogar der Aufruf zum Systemsturz Szenenapplaus: Ein Kessel Klassenkampf!

Gereckte Faust und heiliger Zorn

Tolle Gäst:innen hat Rösinger dafür gewonnen, wie die Autorin und Satirikerin Paula Irmschler, oder deren österreichische Kollegin Stefanie Sargnagel, die in einer der besten Szenen eine Erbscham-Therapeutin gibt – dringend benötigt, 10 Billionen Euro werden in den kommenden zehn Jahren vererbt, wie eine Projektion erklärt – und die nebenbei noch ein Hohelied aufs Großwerden in der sogenannten Unterschicht singt. So konnte sie beim Fluchen schon in der Grundschule alle übertrumpfen, und die täglichen 15 bis 18 Stunden vor dem Fernseher waren eine unschätzbare höhere Bildung in Sachen Popkultur.

„Die große Klassenrevue“ – am HAU zur Eröffnung der Programmreihe „Wem gehört die Welt?“ uraufgeführt – sprüht überhaupt vor Einfällen. Es wird das Märchen vom Aufstieg durch Leistung mittels einer Trittleiter-Choreografie in Slowmotion dekonstruiert, die „Neiddebatte“ tanzt im grellgelben Kostüm herein und wird als Kampfbegriff der Upperclass enttarnt, eine Streetworkerin aus dem Problembezirk Grunewald hat einen Talkshowauftritt, bei dem sie Erschütterndes aus der Parallelgesellschaft der „Reichen-Clans“ berichtet. Und beim Musical-Intermezzo „My Fail Lady“ ist ein proletarisches Pygmalion-Projekt zu bestaunen. Alles sehr smart, sehr ironisch, aber befeuert von echtem Zorn auf die Verhältnisse.

Rösinger, die das Stück zusammen mit Meike Schmitz inszeniert hat, bleibt ihrem am HAU entwickelten Stil treu. Gereckte Faust, volle Inbrunst – und ein unverbrüchlicher Trotz: Lieber mit billigem Sekt Richtung Altersarmut, als von den Champagnerresten der Herrschenden trinken.

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