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Junger Klassik-Star: In der Virtuosen-Falle

Der Klarinettist Andreas Ottensamer ist erst 24, hat es aber schon weit gebracht. Der gebürtige Wiener ist Solist bei den Berliner Philharmonikern und hat gerade ein grandioses Album herausgebracht. Trotzdem könnte er jetzt bei dem Orchester herausfliegen.

Andreas Ottensamer polarisiert. Nicht in musikalischer Hinsicht, da ist der 24-jährige Klarinettist über alle Zweifel erhaben, handwerklich wie interpretatorisch. Und auch beim ersten, flüchtigen Kennenlernen stellt sich nicht der Eindruck einer problematischen Persönlichkeit ein. Sicher, Andreas Ottensamer ist selbstbewusst – wer aber würde das dem Österreicher verübeln, der in jungen Jahren schon so viel erreicht hat und dazu noch überdurchschnittlich attraktiv aussieht? Im Interview wirkt er offen und fokussiert, freundlich, seinem Gesprächspartner zugewandt. Und doch steht sein Traumjob bei den Berliner Philharmonikern jetzt auf der Kippe.

Im März 2011 übernahm Ottensamer die Position des Solo-Klarinettisten von Karl-Heinz Steffens, der für eine Zweitkarriere als Dirigent das Orchester verlassen hatte. Am Ende der Probezeit aber stimmte die Mehrheit der Philharmoniker gegen den Österreicher. Weil es aber gleichzeitig eine starke Befürworterfraktion gab, wurde er gewissermaßen zur eigenen Aushilfe, spielte mit einem bis zum Saisonende befristeten Vertrag weiter. Eigentlich sollte am 30. Mai ein zweiter, definitiver Wahlgang stattfinden. Doch die Musiker beweisen einmal mehr, dass sie ihre basisdemokratische Organisationsform wirklich aktiv leben – und konnten sich bei dem Treffen lediglich darauf einigen, über die Frage einer Abstimmung abzustimmen. Die immerhin wurde mit „Ja“ beantwortet. Irgendwann vor dem Waldbühnenkonzert am 22. Juni müssen die Philharmoniker sich nun endgültig darüber klar werden, ob Ottensamer bleiben soll oder nicht. Eine Nervenprobe für den Kandidaten.

Der allerdings wusste genau, auf welches verminte Terrain er sich da begeben hat. Schließlich stammt er aus einer Musikerfamilie. Sein Vater ist Solo-Klarinettist bei den Wiener Philharmonikern, sein älterer Bruder ebenfalls. Darum wollte der 1989 geborene Andreas auch unbedingt etwas anderes lernen. Es wurde das Cello, wie bei der Mutter. „Ich war nicht sehr einfallsreich als Kind“, sagt er lachend. Doch so richtig ging es nicht voran mit dem Streichinstrument. Er ist gut, wird als Zehnjähriger an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst aufgenommen, aber eben nicht herausragend. Darum probiert er mit 12 dann doch mal die Klarinette aus – und siehe da: Plötzlich geht alles wie von selbst. Und rasend schnell.

So schnell, dass Andreas Ottensamer fürchtet, zum Fachidioten zu werden. Also bewirbt er sich an der Harvard University, will bei einem Studium generale seinen Horizont erweitern, Persönlichkeitsbildung betreiben. Kaum in den USA angekommen, erreicht ihn allerdings ein Angebot, das er nicht ablehnen kann: das zweijährige Stipendium für die Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker. Ein weiteres Mal wird er noch nach Harvard zurückkehren, wieder nur für wenige Monate. Denn dann bekommt er seine erste Festanstellung, beim Deutschen Sinfonie-Orchester. Das er wiederum nach einer Spielzeit verlässt, um zu Simon Rattles Highend-Ensemble zu wechseln.

Zwei weitere Berufsoptionen hatte er bereits in Wien zurückgelassen: Die als Model – zu mehr als Probeaufnahmen kam es nicht, nachdem er in einer Kneipe von einem Talentscout angesprochen worden war – und die als Fußballer. In dem Verein, den er mit Kickerkumpels gegründet und nach der Kammermusikformation seines Vaters „Wiener Virtuosen“ benannt hat, mischt er immerhin noch so oft mit, wie es seine philharmonische Freizeit zulässt. Derzeit spielen die „Virtuosen“ in der Diözesanliga Wien.

In der Klassik dagegen gehört Andreas Ottensamer längst zur Champions League. Seit Freitag ist sein erstes Solo-Album auf den Markt, aufgenommen für die Deutsche Grammophon – und zwar nicht als Sonaten-Visitenkarte mit Klavierbegleitung, sondern gleich als Premiumprodukt mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra, dirigiert von einem weiteren, ganz heiß gehandelten Newcomer, Yannik Nézet-Séguin. Das Programm ist intelligent gestrickt, publikumsfreundlich, ohne populistisch zu sein.

Von seinem Wiener Jugendfreund Stephan Koncz, der seit 2010 zur Cellogruppe der Berliner Philharmoniker gehört, hat sich Ottensamer drei Zugabenschmankerl arrangieren lassen, die jeweils als Präludien vor drei bedeutenden Klarinettenkonzerten stehen. Auf Gershwin folgt Aaron Copland, auf Debussy Domenico Cimarosa, und die 1898 entstandene „Berceuse“ der amerikanischen Komponistin Amy Beach leitet zu Louis Spohr über. So kann Ottensamer alle Facetten seines Könnens vorführen, feinstes, blattgolden schimmerndes Pianissimospiel, mit eleganter Leichtigkeit in die Höhe schießende Tonketten, Triller, die funkeln wie Swarovski-Kristalle, wunderbar ausgesungene, weite Melodiebögen, die jede Sopranistin vor Neid erblassen lassen. Aber eben auch lässigen Groove und Jazzfeeling. Und alles gehüllt in einen samtweichen, betörend ebenmäßigen Klang.

Was könnte diesen makellosen Virtuosen inkompatibel mit den Berliner Philharmoniker machen? Orchester sind komplexe, störanfällige Organismen. Weil hier hoch qualifizierte Spezialisten auf so engem Raum arbeiten wie sonst in keinem anderen Berufsstand. Nämlich buchstäblich Schulter an Schulter, Tag für Tag, bei allen Proben, bei allen Aufführungen. Da muss einfach die Chemie zwischen den Beteiligten stimmen. Hinzu kommt, dass sich wohl in keiner anderen Klassikformation so viele starke Persönlichkeiten zusammenballen wie bei den Berliner Philharmonikern. 128 Mitglieder, 128 Egos, 128 Meinungen.

Für Andreas Ottensamer steht viel auf dem Spiel. Gerne würde er in seinem Künstlerleben zweigleisig fahren, so wie es ihm seine Philharmoniker-Kollegen Emmanuel Pahud oder Albrecht Mayer vormachen: Einerseits als gefeierter Solist herumjetten und CDs aufnehmen, andererseits die Sicherheit einer Festanstellung genießen. Also doppelte Motivation aus dem Wechsel zwischen dem Mitdenken im Kollektiv und der individuellen Selbstverwirklichung zu schöpfen. Orchester, in denen das auf Spitzenniveau möglich ist, gibt es nur wenige.

Wer die Berliner Philharmoniker kennt, muss beim Fall Andreas Ottensamer natürlich an Sabine Meyer denken. In Januar 1981 kam die 21-Jährige zum Probespiel für eine vakante Klarinettenstelle nach Berlin und wurde mit ausdrücklicher Billigung von Herbert von Karajan aushilfsweise vom Orchester angestellt – als erste Frau überhaupt. Als sich die Musiker im November 1982 dann aber gegen Meyer aussprechen, fühlt sich Karajan brüskiert, droht, für lukrative Nebenverdienste wie Tourneen und Schallplattenaufnahmen nicht mehr zur Verfügung zu stehen.

Intendant Peter Girth findet eine juristische Lücke in den Orchesterstatuten und fertigt für die Klarinettistin doch einen Probejahr-Vertrag aus. Die Musiker aber wollen sich ihren Selbstverwaltungsanspruch nicht aushebeln lassen, es kommt zum offenen Machtkampf mit dem Chefdirigenten. Den Sabine Meyer schließlich per Kündigung beendet. Durch die Philharmoniker wurde sie zur Selbständigkeit gezwungen – ihre solistische Weltkarriere dauert bis heute an.

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