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Der Helfer und seine Freunde. Varian Fry um 1940 in der Villla Bel Air in Marseille mit Jacqueline Breton, Jacques Lipschitz und André Breton (v.l.).

© imago images / United Archives/United Archives / kpa Publicity

In der Falle des Exils: Deutsche Flüchtlinge in Frankreich 1940

Uwe Wittstock erzählt aus der doppelten Perspektive von Verfolgten und Helfenden, wie Frankreich zur Falle für viele wurde, die sich vor den Nazis sicher wähnten.

Von Paul Michael Lützeler

Vor drei Jahren wurde Uwe Wittstocks Studie „Februar 33. Der Winter der Literatur“ zu einem Bestseller. Das war eine packende Erzählung der Vertreibungsgeschichte deutscher Autoren in den ersten Wochen von Hitlers Diktatur und zugleich ein Lehrstück über die erschreckend rasche Zerstörung einer liberalen Demokratie durch Parteigänger des terroristischen Rechtsradikalismus.

Wittstocks neuer Band „Marseille 1940“ – eine Fortsetzung von „Februar 33“ – verspricht ein ähnlicher Erfolg zu werden. Der Streit über potenzielle Umschläge von Frieden in Krieg, Demokratie in Gewaltherrschaft, Weltbürgertum in Nationalismus, Rechtsstaat in Anarchie und Toleranz in Rassismus ist aktuell erneut im Gange.

Nach wenigen Kriegswochen konnte Hitler Frankreich im Juni 1940 einen Waffenstillstand diktieren, der das Ende der Dritten Republik bedeutete. In diesem Moment wurde das bisherige Exilland für die Flüchtlinge aus Deutschland zur lebensgefährlichen Falle.

Wittstock wählt für „Marseille 1940“ die Erzählform einer tagebuchartigen Chronik. Mit ihr gelingt es, die Rasanz im Wechsel von Verfolgung und Entkommen zu vergegenwärtigen und die fast täglich sich ändernden Überlebensbedingungen erkennbar zu machen.

Auffallend ist die doppelte Perspektive der Fliehenden und der Helfenden. Um die zweifache Sicht geschichtsgetreu zu vermitteln, hat der Autor zahllose autobiografische und briefliche Dokumente sowohl der Verfolgten wie der Retter ausgewählt, kommentiert und zusammenfassend mit einer dichterisch-emphatischen Sprachkraft nacherzählt, wie man ihr nur selten in Sachbüchern begegnet. 

Die amerikanischen Hilfskomitees waren es, die über mehr als ein Jahr den Flüchtlingen Aufenthaltsgenehmigungen, Transitformulare und Visen besorgten. Das war alles andere als einfach. Oft blieb nur die Option, entweder Fälschungen herbeizuzaubern oder geheime Fluchtwege über die Grenze nach Spanien ausfindig zu machen.

Jene Gruppe von barmherzigen Samaritern, die Wittstock unter den vielen Rettungskomitees zu Recht ins Zentrum seiner Chronik rückt, ist das im Juni 1940 in New York gegründete Emergency Rescue Committee (ERC). Die Spenden flossen reichlich, und Thomas Mann, der prominenteste Schriftsteller des deutschsprachigen Exils in den USA, kooperierte mit dem ERC.

Ohne die Energie, Fantasie und soziale Intelligenz von Varian Fry hätte es eine solche Rettungsaktion mit etwa zweitausend Beteiligten nicht gegeben. Fry war ein 33-jähriger Harvard-Absolvent und als Journalist schon erfolgreich. Bei der Gründungssitzung des ERC in New York war auch Erika Mann anwesend. Sie riet Fry, die neue Organisation nicht von New York aus zu steuern. Die Helferinnen und Helfer müssten vor Ort in Marseille arbeiten, denn in der Metropole der „unbesetzten Zone“ würden sich bald die meisten Exilanten einfinden.

Fry folgte dem Rat. Einmal dort, merkte er, dass die Vichy-Regierung ein Fluchthilfebüro aus Amerika nicht tolerieren würde. Um sich die Gestapo vom Leib zu halten, gründete er einen neuen Verein mit dem unverfänglicheren Namen „Centre Américain de Secours“, (kurz „Centre“ genannt). Man wolle, so die Behauptung Frys gegenüber den Pétain-Leuten, nur die Not der Flüchtlinge in Marseille lindern. 

Frys Begabung war, motivierte und loyale Mitarbeiter:innen zu finden. Dabei achtete er darauf, amerikanische Staatsbürger zu gewinnen, gegen die das Vichy-Regime nichts unternehmen konnte. In Washington D.C. betrieb Präsident Roosevelt keineswegs eine exilantenfreundliche Politik; seine Frau Eleanor dagegen setzte sich resolut für die Belange der Verfolgten ein.

Mary Jayne Gold interviewte im „Centre“ die Flüchtlinge, die um Hilfe baten. Sie war eine junge, reiche, schöne und sozial engagierte Frau mit guten Frankreichkenntnissen. Großzügig spendete sie Geld, das den Hilfesuchenden zufloss. Es reichte auch dazu, für das „Centre“ eine 18-räumige Villa mit Büro-, Arbeits- und Gästezimmern anzuschaffen. Sie war befreundet mit der Amerikanerin Miriam Davonport, die in Paris ihr Kunststudium abschließen wollte, was unter den Kriegs- bzw. Besatzungsbedingungen aber nicht möglich war. Fry ernannte sie zur Generalsekretärin des „Centre“.

Genauso wichtig war ihm, aus Deutschland Verbannte mit Aufgaben zu betrauen. Sein engster Mitarbeiter wurde Otto-Albert Hirschmann, der als Jude auf der Flucht war und dem jungen Chef wichtige Ratschläge geben konnte. Das jüdische Paar Hans Fittko und Lisa Ekstein half fliehenden Schicksalsgefährten bei der Suche nach unbewachten Grenzpfaden. Gerade sie – aber nicht nur sie – wurden auch von einheimischen Franzosen unterstützt. Das Paar hatte inzwischen alle Ausweise beisammen und wollte endlich selbst über Spanien nach Portugal und Kuba entkommen. Im „Centre“ überredete man sie aber, noch einmal für längere Zeit die Rolle der rettenden Grenzgänger zu übernehmen. Trotz der Verzögerung hatten sie Glück und entkamen rechtzeitig.  

Sorgfältig bereiteten Fry und sein Team die Flucht der Autor:innen vor. Zu den bekanntesten unter ihnen gehörten Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Franz Werfel, Hannah Arendt, Anna Seghers, Hertha Pauli und Walter Mehring. Werfels dichterische Kraft war ungebrochen. Seine Leiderfahrung veranlasste ihn, zwei Bücher zu schreiben, die internationale Bestseller wurden: den Roman „Das Lied von Bernadette“ (1941) und das Drama „Jakobowsky und der Oberst“ (1944). „Das Lied“ war die Folge eines Gelübdes, das der Autor während angsterfüllter Tage in Lourdes abgelegt hatte; „Jakobowsky“ verarbeitete potenziell tragische und faktisch komische Erlebnisse bei seiner und Alma Mahler-Werfels Odyssee durch die Pétain-Zone.

Es ging immer um Leben und Tod. Walter Benjamin, Walter Hasenclever und Ernst Weiss begingen Selbstmord. Die erstaunlichste Selbstrettung inszenierte Max Ernst auf einem französisch-spanischen Grenzbahnhof im Juni 1941. Er besaß kein Ausreisevisum. Der Vichy-Beamte wollte ihn nicht passieren lassen. Der Maler ging mit seinen verschnürten Bildern zur spanischen Zollschranke. Dort stellte er die Gemälde aus, verwandelte den Bahnsteig in eine Galerie seiner surrealistischen Werke. Francos Grenzwächter staunten und der Pétain-Zöllner war fasziniert. „Ich liebe Talent“, lobte der Franzose, revidierte sein Ausreiseverbot und winkte das bewunderte Genie durch.

Auch die Spanier vergaßen jede Identitätskontrolle: Wer von den Musen geküsst wird, steht unter Apollons Schutz und braucht keine Transitpapiere. Schon bald grüßte er die Freiheitsstatue und heiratete Peggy Guggenheim.

Zu seinen Lebzeiten hatte der Schutzengel Varian Fry weniger Fortüne.  Er konnte sich in seiner eigenwilligen und anti-autoritären Art nie an Machtgegebenheiten anpassen. Nach 1941 war er mit seinen journalistischen, schriftstellerischen und pädagogischen Neuanfängen nicht erfolgreich. Er starb 1967 mit sechzig Jahren. Einige Monate vor seinem Tod verlieh Frankreich ihm, dem prototypischen Ritter ohne Furcht und Tadel, als Dankeszeichen der Résistance den Ritterorden der Ehrenlegion. 1968 begann international die systematische Erforschung der Exilliteratur 1933–1945. Seitdem wächst sein Nachruhm. Vor drei Jahrzehnten wurde Varian Fry von Yad Vashem der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen.

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