zum Hauptinhalt
Stammgast in Frankfurt. Der französische Autor Didier Eribon auf der Buchmesse 2017.

© dpa/Arne Dedert

Frankfurter Buchmesse: Nicht jeder stirbt für sich allein

Didier Eribon stellt beim Kritikerempfang des Suhrkamp Verlags sein neues Buch über das Altern vor.

Von Gregor Dotzauer

Das Alter, das bittere, lähmende, auf den Tod zulaufende hohe Alter, ist vielleicht die einzige Lebensform, die noch keine politische Vertretung gefunden hat. Wer spricht für die, die buchstäblich keine Stimme mehr haben? Auf der individuellen Ebene ist dies keine originelle Frage. Es sind, so schwierig es in der Praxis werden kann, die Angehörigen, die sich aus moralischer Verpflichtung, wenn nicht aus Dankbarkeit oder Liebe advokatorisch zu Wort melden.

Auch ein abstrakteres, auf universalistischen Prinzipien beruhendes Engagement ist gang und gäbe: Im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit kommt es beispielsweise in der Hospizbewegung zum Tragen. Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) aber treibt in seinem jüngsten Buch „Vie, vieillesse et mort d’une femme du peuple“ (Flammarion) noch etwas anderes um: Lässt sich eine Gemeinschaft der Sterbenden benennen, innerhalb derer sich ein Wir, das nun einmal allen politischen Bewegungen zugrunde liegt, sinnvoll artikulieren kann?

Der Ausgangspunkt für „Leben, Alter und Tod einer Frau aus dem Volk“, das im kommenden Frühjahr bei Suhrkamp auf Deutsch erscheint, ist zutiefst persönlich. In einer Mischung aus heruntergekühlter autobiografischer Erzählung und soziologischer Analyse erzählt er von den letzten Wochen seiner Mutter in einem Altersheim 30 Kilometer außerhalb von Reims.

Die existenzialistische Perspektive, die sich auch seinem Text nicht völlig austreiben lässt, müsste zugeben: Jeder stirbt für sich allein. Die soziologische aber lautet: Stirbt man als einfache, 55 Jahre lang in einer unerträglichen Ehe gefangene Frau, die sich, um ihre drei Kinder durchzubringen, erst als Haushälterin verdingte, bevor sie ihren geplagten Körper in einer Fabrik mit körperlicher Arbeit zuschanden richtete, nicht anders als eine Industriellengattin? Der bis an den Rand des Grabes reichende Klassismus ist Eribons Thema.

Beim Kritikerempfang des Suhrkamp Verlags zur Frankfurter Buchmesse lässt er keinen Zweifel daran, dass dieser sich mit aller Macht bemerkbar macht. Mit Simone de Beauvoirs Buch „Das Alter“ und Norbert Elias‘ Essay „Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen“ bezieht er sich auf wichtige Vorarbeiten. Ihm ist zuzutrauen, diesen Klassikern tatsächlich eine zeitgenössische Wendung zu geben. Ein unwahrscheinlicher Lichtblick im unglücklichen Leben seiner Muttter sollte nicht unerwähnt bleiben: Mit 80 Jahren verliebte sie sich noch einmal heftig in einen Nachbarn.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false