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Freunschaft statt Brüderlichkeit. Omri Boehm im Leipziger Gewandhaus.

© dpa/Hendrik Schmidt

Eröffnung der Leipziger Buchmesse : Der Philosoph Omri Boehm über den Nahostkonflikt

Der israelisch-deutsche Philosoph erhält in diesem Jahr den Buchpreis für Europäische Verständigung. Auch Bundeskanzler Scholz ist dabei – und muss sich gegen propalästinensische Störer durchsetzen.

Von Gregor Dotzauer

Wann zuletzt begann eine Leipziger Buchmesse mit einer solchen intellektuellen Herausforderung? Die Eröffnungsrede des an der New Yorker New School lehrenden israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm, der mit dem Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet wurde, aber auch die Laudatio der Soziologin Eva Illouz, brillierten mit einer öffentlich selten zu hörenden Gedankendichte.

Man sollte den appellativen Charakter, der Boehms Profilierung eines meist nur privatistisch verstandenen Freundschaftsbegriffs gegen eine identitär missbrauchte Brüderlichkeit zugrunde lag, nicht unterschätzen. Doch die Schlüsse, die er daraus für den blutigen Nahostkonflikt ziehen wollte, dienten nicht einer Komplexitätsreduktion, sondern vielmehr der Warnung vor einer hysterischen Parteinahme – auch und gerade von Seiten der Deutschen.

Wann zuletzt überdies begann eine Buchmesse mit so viel politischer Prominenz. Bundeskanzler Olaf Scholz ließ es sich nicht nehmen, in einem wenig passionierten Lob des Lesens den holländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte und seinen flämischen Kollegen Jan Jambon als politische Vertreter des Gastlandauftritts von Flandern und der Niederlande willkommen zu heißen.

Was einige in den Rängen des Gewandhauses gut verteilte propalästinensische Störer nicht davon abhielt, Scholz für seine Israelpolitik niederzubrüllen, bis wiederum das Publikum die Störer niederklatschte und die Security ihres Amtes gewaltet hatte.

Zwischen Mendelssohn und Lessing

Omri Boehm sagt später in einem spontanen Exkurs, das öffentlich wahrgenommene Recht auf freie Meinungsäußerung seien wesentliche Bestandteile eines demokratischen Gemeinwesens und dürften nicht für selbstverständlich gehalten werden – auch wenn es oft nur wahrgenommen werde, um den Status quo zu befestigen. Mit ihrem Geschrei hätten die Störer aber die Institution der öffentlichen Rede einfach unterbrochen.

Boehm zieht seine Linien in einem theoretischen Viereck zwischen dem jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn, dessen Freund Gotthold Ephraim Lessing, der mit seinem Drama „Nathan der Weise“ und der Ringparabel ins Spiel kommt, zwischen seinem Fixstern Immanuel Kant und der Philosophin Hannah Arendt.

Mit Arendt, die 1959 bei der Verleihung des Lessing-Preises „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“ sprach, ist er sich über die fatale Verengung des öffentlichen Diskurses als Säule der Aufklärung einig. Eine Humanität, die sich auf Solidarität mit Unterdrückten beschränkt, verweigert sich einer universalistischen Prinzipien gehorchenden Verantwortung.

Damit einher gehe ein Verfall „selbstevidenter“ Wahrheiten: dass alle Menschen gleich geschaffen wurden oder die Unantastbarkeit ihrer Würde. Identitätspolitik, so lautet der Vorwurf, den er auch in seinem nun ausgezeichneten Buch „Radikaler Universalismus“ (Propyläen) erhebt, zerstöre, gleich ob sie von rechts oder links betrieben werde, einen Begriff von allgemeiner Wahrheit durch partikulare Loyalitäten.

Freundschaft versus Wahrheit?

Während Arendt darin auf Lessings Spuren einen grundlegenden Konflikt von praktisch eingeübter, sich in unmittelbarer Herzenswärme ergehender Freundschaft und kalter, übergeordneter Wahrheit erkennen wollte, ist es Boehms großes Anliegen, dieses vermeintliche Axiom auszuhebeln.

Im Rückgriff auf Aristoteles, der das erste fundierte Konzept von Freundschaft entwickelte, reklamiert er einen tiefen inneren Zusammenhang von selbstständigem Denken, wie es Kant postulierte, und gemeinschaftlichem Diskurs im öffentlichen Raum. Den großen christlichen Denker C.S. Lewis zitierend, scheut er sich nicht, Freundschaft sogar zu einem Quell möglichen Widerstands zu erklären.

Das ist der Moment, in dem Boehms Überlegungen ihre politische Konsequenz entfalten. Sowohl im Versuch, den mörderischen Überfall der Hamas auf israelische Kibbutzim im vergangenen Oktober zu einem Akt „bewaffneten Widerstands“ zu erklären, wie im Versuch der israelischen Regierung, den mit Zehntausenden von Toten und einer Hungersnot verbundenen Einmarsch im Gaza-Streifen als reine „Selbstverteidigung“ hinzustellen, sieht er eine akute Verdunklung von Öffentlichkeit – mit dem Ziel, eine nach wie vor praktizierte, in ihrer philosophisch auszuleuchtenden Gänze aber erst noch zu ergreifenden Freundschaft zu verhindern.

„Freundschaft“, sagt Boehm, „war immer eine Bewährungsprobe, die uns vom katastrophalen Versagen der Brüderlichkeit und dem grotesken Missbrauch abstrakter Ideen von bewaffnetem Widerstand und Selbstverteidigung schützte.“ In der Tradition von Mendelssohn und Lessing gelte es, diese Freundschaft auch zwischen Juden und Deutschen zu erhalten. Sie habe nur eine Zukunft, wenn es gelinge, den schwierigen und harten Wahrheiten der jüdisch-palästinensischen Freundschaft auch in der Bundesrepublik ins Gesicht zu sehen.

Wer nicht selbst in den intellektuellen Schützengräben sitzt, wird Omri Boehm gerne beipflichten, zumal kaum jemand besser als er weiß, wie grotesk seine Hoffnung sowohl unter den Angehörigen der Hamas-Geiseln wie im Trümmerfeld von Gaza und in einem von Antisemitismusphobien vergifteten und paralysierten deutschen Diskurs anmuten dürfte. Seine vehemente Kritik an einer Zweistaatenlösung, die ohnehin zu einer kraftlosen Metapher für irgendeine Art von Friedensschluss geronnen ist, bleibt gerechtfertigt.

Gründe gegen die Zweistaatenlösung

Der Kolonialismus der Siedler im Westjordanland steht ihr so sehr entgegen wie eine mangelnde Verteilungsgerechtigkeit in Bezug auf das zur Verfügung stehende Land. Die in seinem vorhergehenden Buch „Israel – eine Utopie“ ausformulierte Alternative einer binationalen Konföderation dürfte – mit oder ohne Waffenstillstand – aber nicht weniger in astronomische Ferne gerückt sein.

Wer wissen wollte, in welchem philosophischen Kontext Boehm seine lebensweltlich gesättigte Vision ausgebildet hat, fand in Eva Illouz eine exzellente Erklärerin. Mit Boehm (und Susan Neiman) polemisierte zunächst auch sie gegen den identitätspolitischen Furor, der weiterhin in der politischen Arena tobt – und empfahl den „Radikalen Universalismus“ als „Meilenstein“ der Gegenwehr.

Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz bei ihrer Laudatio.
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz bei ihrer Laudatio.

© dpa/Hendrik Schmidt

Boehms Werk verbindet für sie den Glauben an die Werte der amerikanischen Verfassung, den Kantischen Universalismus und das hebräische Prophetentum. Mindestestens mit Letzterem benannte sie bei allem unproblematischen Einverständnis mit Boehms Positionen aber auch die philosophische Sollbruchstelle.

Illouz fragt: „Liegt die Autorität des Universalismus in absoluter Gerechtigkeit und deren Fähigkeit, menschliche Interessen, Gesetze und Verfassungen zu transzendieren; oder ist sie mit der Autorität menschengemachter Gesetze, seien sie gerecht oder ungerecht, verbunden, die von der Übereinkunft vernunftbegabter Menschen bestimmt werden?“ Boehms radikal universalistische Idee von Gerechtigkeit weist, wie er anhand der Geschichte von der Opferung Isaaks nachzuweisen versucht, sogar Gott in die Schranken.

Man gibt sich keineswegs einem haltlosen Relativismus hin, wenn man sich zum Menschengemachten bekennt, also zur historischen und kulturellen Bedingtheit und Begrenztheit philosophischen Denkens. Denn ist es nicht gerade auch die Idee absoluter Wahrheit, die zu kriegerischen Konfrontationen führt? Boehm aber vertritt, wie er einmal in einem Gespräch mit Gudrun Kugler bekannt hat, einen seiner akademischen Disziplin geschuldeten Top-Down-Universalismus, der von liberalen Bottom-Up-Theorien nichts wissen will.

In seinem gegenwärtigen Projekt am Berliner Wissenschaftskolleg, einer Kritik des postmetaphysischen Denkens, wie es Jürgen Habermas samt der unausgesprochenen religiösen Gehalte rekonstruiert hat, hält er an einem Letztbegründungsanspruch fest. Das ist sympathisch unzeitgemäß, inmitten einer von zahllosen geistigen Restitutionsbegehren umstellten Welt aber nicht ohne Risiko.

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