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Thekengespräche. Golaud (Leigh Melrose) schmeißt sich an die undurchsichtige Mélisande (Barbara Hannigan) ran.

© Caroline Seidel/dpa

Eröffnung Ruhrtriennale: Horror in Zeitlupe

Auftakt der Ruhrtriennale: Krzysztof Warlikowski inszeniert Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“.

Es ist der stärkste Eröffnungsabend der drei Ruhrtriennale-Spielzeiten unter der Leitung von Johan Simons. Am Wochenende führte Krzysztof Warlikowski Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ in die Gegenwart und spitzt sie in seiner wie auf Millimeterpapier abgezirkelten Inszenierung gnadenlos zu. Dabei gelingt es ihm auf virtuose Weise, die Enge der großbürgerlichen, ödipal verstrickten Familienverhältnisse in die Weite der Bochumer Jahrhunderthalle zu übersetzen.

Zu Beginn der auf fast vier Stunden gedehnten Aufführung fällt noch Tageslicht in den Innenraum und lässt die von Malgorzata Szecniak sparsam möblierte Bühne nüchtern industriell wirken. Doch parallel zum drohenden Unheil verdunkelt sich zunehmend auch die Halle und wenn am Ende tiefe Nacht herrscht, ist das Zeitgefühl vollends aus dem Takt. Der polnische Regisseur, der als Zeremonienmeister des abgründig Dekadenten gilt, und bisweilen zur Bilder-Überfrachtung neigt, setzt konsequent auf radikale Reduktion. Er nutzt den Raum für kühne Konstellationen und Spiegelungen, die den Kammerspiel-Horror der Familie ins Monströse vergrößern.

Malgorzata Szecniak hat an die rechte Wand eine lange Holzvertäfelung gezimmert, wie sie nebenan auch in der Essener Industriellenvilla der Krupps zu finden ist. Weit hinten an der Kopfseite windet sich eine repräsentative Treppe um das Orchester, darüber befindet sich eine breite Videowand. An der linken Wand erinnert eine Reihe von Waschbecken an die Kauen der Bergwerke, davor ist eine verspiegelte Bar aufgebaut, an der das Geschehen seinen beiläufigen Anfang nimmt. Mélisande sitzt alkoholisiert und fahrig rauchend am Tresen, neben ihr beginnt Golaud ein banales Gespräch. Dann erst kommt das restliche Personal auf die Bühne, applaudiert dem Orchester und Sylvain Cambreling hebt den Taktstock.

Panorama moderner Entfremdung

Warlikowski lässt die psychologischen Konstellationen zwischen Bar, Waschkaue und Salon langsam Fahrt aufnehmen. Dazu setzt er effektvoll Kameras ein: Auf der Leinwand über dem Orchester zeigt er das Geschehen abwechselnd aus der Vogelperspektive oder holt einzelne Details heran. Der fließende Wechsel zwischen Close-ups und Totalen macht den Raum zu einem Magnetfeld und vergrößert, verzerrt und bricht zugleich die Performance. Dazu werfen die Darsteller riesenhafte Schatten auf der getäfelten Wand, was jede Geste zeichenhaft überhöht. Dennoch hütet Warlikowski sich vor Aktionismus als Kontrapunkt zum Fluss von Debussys Partitur, vielmehr verstärkt er den Sog der Klangspur mit zeitlupenartiger Konzentration.

Warlikowski deutet die Geschichte der geheimnisvollen Mélisande, die Golaud im Wald findet und mit auf sein verwunschenes Schloss nimmt, wo ihre seltsame Anziehungskraft – ähnlich der blonden Schönheit in Hitchcocks „Die Vögel“ – tödliches Unheil auslöst, als ein Panorama moderner Entfremdung und Einsamkeit: ein Protokoll familiärer Gewaltzusammenhänge. Gestaute Gewalt lauert bei Warlikowski hinter jeder Bewegung, keiner ist unschuldig in dieser verstrickten Familie, die durch Mélisande aus ihrer fragilen Balance gerät.

Debussys Partitur implodiert

Die Sängerinnen und Sänger agieren wie Filmschauspieler, keine Operngeste schleicht sich ein. Warlikowski lenkt den Blick vor allem auf Mélisande, die von der kanadischen Sopranistin Barbara Hannigan mit irritierender Vieldeutigkeit gespielt wird. Mélisande ist kein Opfer, sondern eine zwischen Todestrieb, Lüsternheit und Verzweiflung schillernde Figur. Die Sopranistin spielt sie wie eine Süchtige, mit faszinierend undurchschaubarem Mienenspiel. Wenn das Unheil unausweichlich wird, lächelt sie triumphal, ihr leicht ansprechender, heller Sopran scheint keinerlei Mühen zu kennen. Auch die weiteren Rollen sind großartig besetzt: Leigh Melrose ist ein zerrissener, vor Aggression bebender Golaud, Phillip Addis gibt dessen Bruder und heimlichem Nebenbuhler Pelléas eine androgyne Note, Franz-Josef Seligs König Arkel imponiert mit ruhiger Präsenz und balsamischem Bass.

Sylvain Cambreling am Pult der Bochumer Symphoniker weiß um die Gefahren von Debussys subkutan brodelnder Partitur, deren Höhepunkte implodieren, statt sich zu entäußern. Diese Tiefen und Untiefen lotet Cambreling präzise aus, er sorgt für höchste Transparenz und Klarheit. Ein grandioser Festivalauftakt.

Zu den weiteren Höhepunkten der letzten Ruhrtriennale unter der Leitung von Johan Simons zählen u.a. die Uraufführung des Musiktheaters „Cosmopolis“ nach Don DeLillo (Regie: Johan Simons), Philippe Manourys Musiktheater „Kein Licht“ auf einen Text von Elfriede Jelinek unter der Regie von Nicolas Stemann und die Uraufführung von Anne Teresa De Keersmaekers Choreographie „Bach. Cellosuiten“ mit ihrer Compagnie Rosas und dem Cellisten Jean-Guihen Queyras.

Die Ruhrtriennale läuft bis zum 30.9. Weitere Infos: www.ruhrtriennale.de

Regine Müller

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