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Paris, Stadt der Liebe. Dieses Bild vom März 1950, vor der Kulisse des Pariser Rathauses, machte Doisneau berühmt.

© Atelier Robert Doisneau, 2016/ Martin-Gropius-Bau

Robert Doisneau im Berliner Gropius-Bau: Diesen Kuss der ganzen Welt

Robert Doisneau fotografierte die Menschen und den Alltag von Paris. Jetzt widmet ihm der Berliner Gropius-Bau eine Ausstellung.

Der „kleine Mann“ erlebt eine ungeahnte Renaissance. Den Eliten, ob tatsächlichen oder selbst ernannten, ist in jüngster Zeit schmerzhaft deutlich geworden, dass das Hinwegsehen über die einfachen Bürger politisch fatale Folgen zeitigt. Mit einem Mal wird die jahrelang als „Modernisierungsverlierer“ bedauerte oder als „Abgehängte“ verachtete, durchaus heterogene Bevölkerungsgruppe wieder in den Blick genommen.

Robert Doisneau hat sich bei den petites gens, den einfachen Leuten, wohlgefühlt. Er selbst stammt von dort, aus Gentilly, einer dieser gesichtslosen Vorstädte, die um die Metropole Paris wuchern. Anders als etwa die wohlhabenden Pariser des 15. und 16. Arrondissements hat er nie auf seine Mitbürger herabgeblickt; er hat sie aber umgekehrt auch nicht idealisiert. Er wollte sie, mit seinen Mitteln der Fotografie, immer nur abbilden, so, wie sie sind.

Das sagt jedenfalls seine Tochter Francine Deroudille bei der Vorbesichtigung der Ausstellung, die der Berliner Martin-Gropius-Bau nun zum Werk des Fotografen zeigt. Die Schau tourt seit Längerem durch Europa, und der Gropius-Bau, der über keine eigenen Projektmittel verfügt, ist froh, eine weitere Fotografie-Ausstellung ins Haus geholt zu haben. Die Übernahme brachte es mit sich, dass kein deutschsprachiger Katalog zur Verfügung steht. Stattdessen wird die wuchtige Gesamtausgabe des Taschen-Verlags zum ermäßigten Preis angeboten.

Die Ausstellung allerdings konzentriert sich auf den Kern des Lebenswerks, auf die Arbeiten der vierziger und fünfziger Jahre, die sie in gut 100 Beispielen vorstellt. Doisneau (1912–1994) kam früh zur Fotografie und hat zeitlebens Auftragsarbeiten geliefert. Nur so kam die ungeheure Zahl von 350.000 Negativen zustande, die das Archiv zählt und deren Auswertung noch Jahre in Anspruch nehmen wird.

Das Bild vom Kuss: der Inbegriff von Paris als "Stadt der Liebe"

Die Scheidelinie zwischen beauftragten und selbst gesuchten Arbeiten ist sicher schwer zu ziehen. Das wird exemplarisch deutlich an seiner berühmtesten Aufnahme, der von dem jungen Liebespaar, das sich auf offener Straße vor dem Pariser Rathaus küsst. Jahrzehntelang hielt sich die Legende, dass es sich um einen Schnappschuss gehandelt habe, den Doisneau von seinem Kaffeehausstuhl aus knipsen konnte; um das, was der nahezu gleichaltrige und von seiner großbürgerlichen Herkunft her entgegengesetzte Kollege Henri Cartier-Bresson den moment décisif, den „entscheidenden Augenblick“ genannt hat.

Hoppla! Die junge Braut auf der Schaukel im Garten sah Doisneau im Jahr 1946.

© Atelier Robert Doisneau, 2016/Martin-Gropius-Bau

Ganz so vom Glück begünstigt war Doisneau in diesem Moment aber nicht. Vielmehr war das Bildmotiv abgesprochen und ein junges Schauspielschülerpaar engagiert worden, um den spontanen Kuss inmitten der vorbeieilenden Passanten zu spielen. Der Inbegriff von Paris als „Stadt der Liebe“ war geschaffen; gerade so, wie die amerikanische Zeitschrift „Life“ es wollte, die Doisneau den Reportageauftrag gegeben hatte. Am Ende seines Lebens hat Doisneau die Täuschung eingeräumt. Andererseits: Was macht das schon? Das Bild ist und bleibt insofern authentisch, als es eine Stimmung transportiert, die von den anderen Aufnahmen aus dieser Zeit beglaubigt wird: ein „trotz allem“ heiteres, im Glück des Hier und Jetzt lebendes Paris.

„Trotz allem“: Die Lebensumstände der Nachkriegszeit, die in Frankreich bis zum Aufstieg de Gaulles und der Errichtung der Fünften Republik nach 1959 dauerte, waren alles andere als rosig. Auch das – und gerade das – halten die Bilder Doisneaus fest. Da werden Häuser gerade so von Stützbalken gehalten, da blättert die Farbe in mehreren Schichten, da speien Fabrikschornsteine dunklen Ruß über ärmliche Vorstädte. Nichts, rein gar nichts ist neu oder kündet von Wohlstand, alles stammt aus der Vorkriegszeit, wird be- und vernutzt, ist schäbig und kann günstigenfalls die Würde des Alters in Anspruch nehmen. Aber um die Zukunft der Kinder, die auf den gepflasterten Straßen spielen, muss man sich schon Sorgen machen.

Doisneau mochte das Durcheinander in den Vorstädten

Oder doch nicht? „Man sprach noch nicht von Spielplätzen, der Ausdruck war noch nicht erfunden“, hat Doisneau 1979 über die Vorstädte von einst geschrieben: „Verständlich, dass dieses Durcheinander dringend organisiert werden musste, um ein nützliches Instrumentarium daraus zu machen. Heute haben wir es, und es ist ebenso solide wie hässlich.“

Ein Blick in die Ausstellung mit dem Titel "Vom Handwerk zur Kunst".

© dpa/Paul Zinken

Mit der Modernisierung, die Frankreich nach dem Krieg zu erfassen begann und die in der Zeit de Gaulles zu technokratischen Lösungen wie den gigantischen Sozialwohnungsbauten am Rande der Großstädte führte, konnte Doisneau nichts anfangen. „Ich liebe diese Quartiers, wo kein Haus wie das andere gebaut ist“, schreibt er in dem erwähnten Essay. „Ich fühle mich nur wohl in Straßen, wo man sie alle zusammen sieht, den Rentner mit seinem weißen Hündchen, die Blumenfrau, das kleine Mädchen auf Rollschuhen und den dickleibigen Mann.“ Er nannte es „das Gewimmel des Lebens“, und man mag darin die soziale Vorstellung des front populaire, der Volksfront von 1936 erkennen, die Doisneau als junger Mann erlebt hatte.

1949 erschien das Fotobuch „La banlieue de Paris“ mit einem 50-seitigen Text des Dichters Blaise Cendrars und 130 Aufnahmen von Doisneau, der damals für wechselnde Magazine und Agenturen tätig war. Das Buch verkaufte sich binnen weniger Monate und machte den Fotografen bekannt. Die Ausstellung im Gropius-Bau folgt dem Duktus des Buches und feiert das Menschlich-Allzumenschliche des einfachen Lebens.

Doisneau wusste das Vertrauen der Porträtierten zu gewinnen

Dabei gelingen ihm zwischendurch Kompositionen von großer formaler Kraft wie die vom „Bistro ,Au bon Coin’“ mit den auf das Eckhaus zulaufenden Rillen im Kopfsteinpflaster. Jahrzehnte später hat er das Haus nochmals aufgesucht, das Bistro war verschwunden – Spiegel der sozialen Veränderung des Quartiers. Oder das Bild der Lokomotiv-Drehscheibe in Le Bourget von 1946, das an die besten Leistungen der Neuen Sachlichkeit heranreicht, wie auch die schlicht mit dem Namen der Stadt Lille bezeichnete Aufnahme einer Fabrik am Kanal. Aber es sind dies Ausnahmen in seinem Œuvre.

Doisneau hat sich die Nähe zu den von ihm fotografierten Menschen, die Vertrautheit mit den Personen erarbeiten müssen. Sein erstes Foto mit der ab 1929 benutzten Rolleiflex im Mittelformat 9 x 12 zeigt – Pflastersteine. „Da ich mich vor lauter Schüchternheit nicht traute, den Blick auf Menschen zu richten, fotografierte ich eben Dinge“, hat er später dazu bemerkt. Robert Doisneau wurde zu einem der bedeutendsten und sicher liebenswertesten Menschenfotografen.

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, bis 5. März. Buch im Taschen-Verlag, 540 S., Großformat, 39,90 €, im Buchhandel 49,99 €, Infos: www.gropiusbau.de

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