zum Hauptinhalt
Der junge Marcel Proust, geschätzt 1885.

© imago/Leemage

Proust und der Sex: Die kleine Kammer

Lesen und Träumen, Tränen und Lust: Wie dezent und umsichtig Marcel Proust in der "Recherche" mit dem rein physischen Geschlechtsakt umgegangen ist.

Die „Recherche“ ist bekanntermaßen nicht nur ein großer, weitverzweigter Roman über die Trias Erinnerung, Vergessen und Gewohnheit, nicht nur ein Gesellschaftsroman, sondern auch einer über die Liebe, über gleichermaßen hetero- wie homosexuelle Beziehungen.

Zur Liebe gehört Sex, nur hält sich diesbezüglich Marcel Proust häufig zurück – das körperliche Gebalze zwischen Jupien und Charlus zu Beginn von „Sodom und Gomorrha“ und noch viel mehr Charlus’ sadomasochistische Praktiken in „Die wiedergefundene Zeit“ wirken nach vielerlei Dezenz geradezu obszön.

Explizite Schilderungen des Geschlechtsakts zwischen Swann und Odette oder Marcel und Albertine aber verlieren sich zumeist in Andeutungen und Bildern.

So stehen bei Swann und Odette die Cattleyablüten, die er ihr bei der ersten Annäherung im Zweispänner wieder am Dekolleté befestigt, fortan als Synonym für Sex. „Cattleya spielen“ ist die Vokabel, „die sie schließlich ganz gedankenlos zur Bezeichnung des Aktes der physischen Inbesitznahme benutzten“, wie es in der von Luzius Keller revidierten Rechel-Mertens-Übersetzung heißt.

"Cattleya spielen"?

Auch eine der Schlüsselszenen der „Recherche“ im ersten Band, in Combray, die Begegnung der Tochter des Klavierlehrers und Komponisten Vinteuil mit ihrer Freundin im Haus des toten Vaters in Montjouvain, ist zwar eindeutig in ihrer Bösartigkeit und genauso bezüglich des sexuellen Vorspiels: „Dann warf sich Mademoiselle Vinteuil auf das Sofa, und ihre Freundin sank über sie hin“; „sie sprang ihrer Freundin auf die Knie und bot keusch ihre Stirn deren Küssen dar, wie sie es als ihre Tochter hätte tun können...“.

Doch als es zur Sache geht, inklusive der Bespuckung des väterlichen Porträtfotos, schließt die Vinteuil-Tochter die Fensterläden und der Erzähler auf dem Hügel und mit ihm der Leser bleibt außen vor.

Nicht viel anders verhält es sich mit dem sexuellen Erwachen des Erzählers. Es gibt in Combray sein erstes Zusammentreffen mit Gilberte, Swanns und Odettes Tochter, es ist nicht mehr als ein Blickkontakt, beide sind noch Kinder. Für sie aber war es eine konkret-lüsterne Einladung, so gesteht sie es ihm in der „Wiedergefundenen Zeit“.

Die Spur einer Schnecke

Vor allem jedoch gibt es den nach Iriswurzel und einem Johannisbeerstrauch duftenden Raum, „die kleine Kammer“ neben der Studierstube im Haus der Tante in Combray, von wo aus der Turm von Roussainville-le-Pin zu sehen ist. Ja, und wo Marcel sich zurückziehen kann, um den Beschäftigungen nachzugehen, „die unverletzliche Einsamkeit erforderten: Lesen und Träumen, Tränen und Lust.“

Man kann da schon mal auf den Gedanken kommen, dass diese Kammer zuvorderst sein Ort des ungestörten Lesens von beispielsweise der Landromane von George Sand ist, so wie der Platz im Garten unter dem Kastanienbaum.

Doch mehr noch steht irgendwann die Lust im Vordergrund, nämlich als sein Sehnen nach einer Frau unerträglich wird, nach einem „Bauernmädchen aus Méséglise“, einer „Fischerin aus Balbec“. Der junge Erzähler fleht sogar den Turm von Roussainville an (Achtung: Phallussymbol!), ihm „ein Kind des Dorfes“ zu schicken.

Von einer „natürlichen Spur wie die einer Schnecke auf den Blättern des wilden schwarzen Johannisbeerstrauches“ ist dann die Rede, und offensichtlich wird, dass der gute Marcel gerade masturbiert und sich Erleichterung verschafft hat.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false