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Fritz J. Raddatz.

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Zum Tod von Fritz J. Raddatz: Der Unruhegeist

Scharfe Zunge, brillanter Kopf: Fritz J. Raddatz, der große deutsche Feuilletonist der Nachkriegszeit, Schriftsteller und Literaturkritiker ist am Donnerstag im Alter von 83 Jahren gestorben.

Im Nachhinein liest er sich dann doch anders, der „Abschied“, den Fritz J. Raddatz im September des vergangenen Jahres in der „Welt“ erklärt hat, seinen Abschied vom Journalismus im Allgemeinen und der Literaturkritik im Besonderen. Vermutlich hat er da bereits geahnt, dass ihm nur noch sehr wenig Lebenszeit bleibt, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, der vergehenden Zeit in Ruhe beizukommen. „Ich habe mich überlebt“, schrieb Raddatz, „meine ästhetischen Kriterien sind veraltet, das Besteck des Diagnostikers rostet“, er sei aus der Welt gefallen. Er schrieb aber auch: „Alles Leben hat seine Grenze. Alles Erleben auch“. Und: „Time to say goodbye“. Das hatte etwas seltsam Unglaubwürdiges, was die eigene Abgeschafftheit angeht – meint er das wirklich ernst, dachte man damals beim Lesen? Andererseits schwang in den Zeilen schon ein trauriger, irgendwie morbider Unterton mit.

Doch der Aplomb, mit dem Fritz J. Raddatz seinen Abschied inszenierte, seine Koketterie, kein Montaigne, kein Proust sein zu müssen, um die Schönheit nicht auf ewig herauszufordern („Die große Gier nach Schönheit verkommt zu Beliebigkeit“), passte zu ihm wie zu keinem Zweiten aus der Großkritikergarde seiner Generation, den Reich-Ranickis, Kaisers oder Baumgarts. Fritz J. Raddatz, der 1931 in Berlin geboren wurde und dessen Mutter bei der Geburt starb, war ein Kritiker, der in seinen Texten genau wie in der Literatur Wert auf Stil legte, der rezensierend Elan und Eleganz, spielerischen Ernst und offene Eitelkeit miteinander verband. Und der dies auch äußerlich zur Schau stellte, mit immer perfekt sitzenden Anzügen, Manschettenknöpfen, edlem Schuhwerk etc, mit geschmackvollen Wohnungseinrichtungen und schnellen Sportwagen; Raddatz war ein Dandy, der sich selbst wichtig nahm, der aber auch politisch moralisierte und Krach schlug.

Als „die letzte Erscheinungsform des internationalen Jetsets im Feuilleton“ hat ihn der vergangenes Jahr gestorbene „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher bezeichnet, im Jahr 2003 war das. Da stellte Raddatz im Berliner Four Seasons Hotel seine Memoiren „Unruhestifter vor, er selbst nannte sich darin einen „Revoluzzer im Maßanzug“. In seinen Tagebüchern, die 2011 erschienen, in denen er ordentlich austeilte und über viele seiner prominenten Weggefährten im Literaturbetrieb herzog, ein ganz eigener Feuilleton-Gesellschaftsroman!, brachte er in einer längeren Aufzählung schön auf den Punkt, wie es um sein eigens Ich bestellt war: „Selbstmitleid, Hang, geliebt zu werden, Angst, Aggressivität, Minderwertigkeitsgefühl, Sentimentalität, Überheblichkeit, Selbstbezogenheit.“

Raddatz (rechts) mit den Schriftstellern Siegfried Lenz (l.) und Günter Grass beim Kongress des Verbandes Deutscher Schriftsteller in München, 1980.
Raddatz (rechts) mit den Schriftstellern Siegfried Lenz (l.) und Günter Grass beim Kongress des Verbandes Deutscher Schriftsteller in München, 1980.

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Das Bewusstsein der eigenen Größe, das Wissen darum, ein Zeitgenosse von literaturhistorischer Bedeutung zu sein, es hat ihn schon früh angetrieben: als Cheflektor des DDR-Verlags Volk & Welt von 1953 bis 1958, als stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags in den sechziger Jahren und als Feuilleton-Chef der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ von 1976 bis 1985. „Seine Eitelkeit hat uns Qualitäten beschert, aber ihn auch verlockt, bis an den Rand zu gehen und darüber hinaus“, beschrieb der damalige „Zeit“-Chefredakteur Theo Sommer Raddatz’ Tätigkeit als Feuilletonchef. Der Kulturteil war in seiner Zeit so leidenschaftlich wie aufklärerisch, streitbar und voller Überraschung – mit Raddatz als Reiz- und mitunter auch Hassfigur.

Mit viel Genuss und Häme wird von der Konkurrenz schließlich der Fehler aufbereitet, der ihn seinen „Zeit“-Job kostet. In einem kleinen, angeblich von Theo Sommer gegengelesenen Text zur Buchmesse siedelt Raddatz einen Hauptbahnhof im Frankfurt der Goethe-Zeit an und sitzt mit seinem vermeintlichen Goethe-Zitat einer Parodie der „Neuen Zürcher Zeitung“ auf. Raddatz erhält einen – vermutlich gut dotierten – Autorenvertrag als „Zeit“-Kulturkorrespondent, fragt sich in Folge aber des Öfteren, warum die Leute Angst vor ihm haben oder sich so boshaft an ihm abarbeiten. Ist es sein Aussehen? Seine Bisexualität, aus der er nie einen Hehl gemacht hat? Seine schnelle Auffassungsgabe, seine Intelligenz? Oder ist es, wie er in seinen Tagebüchern schreibt „mein alter/ewiger Fehler: Ich mache die Menschen sich nichtig fühlen, unterlegen; und das weckt instinktiv Aggressionen“?

Tatsächlich ist es heute, da Journalistenbücher und -romane gang und gäbe sind, kaum noch vorstellbar, wie Raddatz allein dafür angefeindet wurde, dass er mit seinem Erzähldebüt „Kuhauge“ 1984 die Seiten wechselte, wie höhnisch und böse das Buch verrissen wurde. „Sie wissen, wie wir alle an Ihnen hängen, aber wollen Sie eigentlich Feuilletonchef sein oder Romancier werden?“ wurde er bei der Veröffentlichung gefragt. Und als er gerade an seinem dritten Roman „Die Abtreibung“ sitzt, berichtet er von Selbstzweifeln, die seit je an ihm nagen: „Wie unverschämt, gar lächerlich ist es eigentlich, nach all den Riesen der Weltliteratur von Flaubert bis Joyce sich hinzusetzen und Prosa zu schreiben – Unverfrorenheit?“

Als seine Romantrilogie 2007 wiederveröffentlicht wird, bekommt diese den Übertitel „Eine Erziehung in Deutschland“, und genau das ist sie: ein alltagsgesättigter, lesenswerter Erziehungs- und Entwicklungsroman der schwierig-besonderen, auch sexuellen Art. Raddatz erzählt vom Aufwachsen seines Helden und Alter Egos Bernd Walther im Berlin der Nazi-und Kriegszeit, mitunter in sehr gespreizter Sprache, von den Bombenangriffen der Alliierten auf Berlin, davon, wie Bernd sich und den sterbenskranken Vater mit Schwarzmarktgeschäften durchbringt, wie er zum Journalisten wird.

Die Kriegserlebnisse und das mutterlose Aufwachsen bescheren Raddatz eine existenzielle Traurigkeit, die er zu überdecken versteht, die seinem sich entwickelnden, „nicht parierenden, sich nicht bückenden Selbstbewusstsein“ wenig anhaben kann. Er studiert an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, „aus politischer Überzeugung“, macht 1953 sein Staatsexamen, promoviert 1958 über Herders Literaturbegriff und siedelt in den Westen nach Konflikten mit dem DDR-Staatsapparat. Er schreibt früh eine Biografie über Karl Marx und später eine über Gottfried Benn, gewinnt in seiner Zeit bei Rowohlt Autoren wie Hubert Fichte, James Baldwin, Walter Kempowski, Rolf Hochhuth und Elfriede Jelinek, ist eng befreundet mit Fichte und Peter Weiss, mit Inge Feltrinelli und Mary Tucholsky, streitet und versöhnt sich wieder mit Grass, Walser, Johnson, Rühmkorf, Enzensberger und all den anderen.

In den neunziger Jahren wirkt er wie eine Figur von gestern – nur um im nachfolgenden Jahrzehnt in seiner Einzigartigkeit noch mehr wertgeschätzt zu werden, als seine Memoiren und seine Tagebücher erscheinen (und einige andere Bücher mehr). Zu Krankheit und Alter gehöre, hat er 2012 in einem Interview gesagt, „dass man vielleicht auch das Ende selber bestimmt“, selbst das könne Stil haben, „im Sinn von Mut, Würde, Anstand“. Fritz J. Raddatz hat sich in der Schweiz das Leben genommen. Am Donnerstag, als die Nachricht von seinem Tod bekannt wird, erscheint in der „Zeit“ ein Vorabdruck seines Buchs über die „Jahre mit Ledig“, dem großen Rowohlt-Verleger. Er hat es wohl so geplant.

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