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Sänger Ingo Witzke: Der Überragende

Spätzünder: Mit 16 fand Ingo Witzke klassische Musik langweilig. Heute ist der Zwei-Meter-Bass eine feste Größe an der Komischen Oper

So leichthändig wie Little John das Holzfass voll Bier hält, könnte man meinen, es sei nur mit Federn gefüllt. „Sorglos kann das Leben sein“, singt Robin Hoods Begleiter – und beendet die Melodie mit einem Ton, der so tief ist, dass man ihn als Vibrieren in der Magengegend wahrnimmt. „Wir machen das gleich noch einmal!“, unterbricht der Regieassistent, stürzt auf die Probebühne und erklärt Little John die genaue Abfolge der Laufwege und Handbewegungen. Es laufen die Wiederaufnahmeproben für Frank Schwemmers Abenteueroper „Robin Hood“ an der Komischen Oper, und John ist in Wahrheit alles andere als little: Er heißt Ingo Witzke und misst zwei Meter.

Seit 2008 ist Witzke Mitglied im Opernstudio an der Komischen Oper. Und der junge Bass kann sich vor großen Rollen kaum noch retten: ob als golden gekleideter Plutus im surrealen Intermezzo von Tschaikowskis „Pique Dame“, als Transvestit in Donizettis „Don Pasquale“ oder eben als Little John. Dass er seine Mitspieler fast immer um zwei Köpfe überragt, macht vieles einfacher für den 31-Jährigen. In den meisten Opern sind die Charaktere der Bass-Rollen nämlich mit Alter und Weisheit verknüpft und darum mit jungen Darstellern schwer besetzbar. „Meine Größe hat das Altersdefizit schon oft wettgemacht“, erzählt Witzke mit leiser Stimme. Gemessen an seiner Statur wirkt er im Gespräch erstaunlich zurückhaltend, ja fast ein wenig demütig, wenn er über das Singen spricht und über seinen großen Traum, eines Tages in Bayreuth auf der Bühne zu stehen. Vielleicht, weil sein Weg zur Oper alles andere als vorgezeichnet war.

Witzke ist schon 16 Jahre alt, als es zur ersten Berührung mit der Klassik in der Heimatstadt Göttingen kommt. Der Musiklehrer treibt Witzkes Klasse in eine „Don Giovanni“-Inszenierung. „Ich fand das damals eher langweilig“, erinnert er sich. Ein Jahr später beginnt der Teenager dennoch, im Chor zu singen. Als Verdis Requiem auf dem Programm steht, ist es um ihn geschehen: „Ich hörte den Solobass singen und war unheimlich beeindruckt, dass aus einem Menschen eine so tiefe und so bewegende Stimme herauskommen kann.“ An Gesang als Profession denkt er damals aber noch nicht. Nach dem Zivildienst in der Schwerbehindertenpflege liebäugelt er immerhin mit einem Beruf, der in diese Richtung geht. Witzke beginnt ein Musikwissenschafts- und Humanistikstudium in Göttingen. Erst als er eine Freundin in Leipzig besucht, die dort Gesang studiert, und bei ihrem Stimmbildungs- und Schauspielunterricht zuschaut, reift der Entschluss, von der Theorie in die Praxis zu wechseln. Er besteht die Aufnahmeprüfungen in Leipzig, Detmold und Berlin und entscheidet sich schnell für die Hauptstadt.

2008 hört der angehende Bass von der Möglichkeit eines Stipendiums an der Komischen Oper. Obwohl er noch studiert, bewirbt sich Witzke sofort und findet tatsächlich Aufnahme im neuen Opernstudio des Musiktheaters.

„Ingo war sehr zurückhaltend, auch gegenüber seiner eigenen Stimme“, erinnert sich Operndirektor Philip Bröking. „Sein Potenzial aber war unverkennbar.“ Sechs Hochschulabsolventen, nicht älter als 30, nimmt die Komische Oper jeweils für zwei Jahre auf. Die Auserwählten besuchen Workshops bei Regisseuren und Dirigenten des Hauses, Sprache, musikalische Interpretation, szenische Darstellung und sogar Vertragsrecht stehen auf dem Lehrplan. Zentral aber ist die Integration in den Produktionsalltag. Mit Regieassistenten und Korrepetitoren werden die Rollen ausführlich analysiert und detailliert geprobt, bevor es dann an die Zusammenarbeit mit den erfahrenen Profis geht. Die oftmals gravierende Lücke zwischen dem Abschluss des Studiums und einer Karriere als Solist möchte Philip Bröking mit dieser zweijährigen Zusatzausbildung schließen. „Häufig kommen Sänger aus einer Art ,Naturschutzgebiet Musikhochschule’ in die raue Wirklichkeit eines betrieblichen Umfelds und sind mit vielen Abläufen schlichtweg überfordert. Mit dem Studio schaffen wir weichere Übergänge.“

Solche Förderprogramme für junge Sänger gibt es an vielen Theatern. In Berlin betreibt auch die Staatsoper seit 2007 ein Opernstudio. Was unter den Linden maßgeblich von der Liz-Mohn-Kultur-und-Musik-Stiftung gesponsert wird, steht an der Behrenstraße auf drei Finanzsäulen: Da sind zum einen interne Mittel aus dem Solisten- sowie dem Gästeetat des Hauses, zum anderen engagiert sich der Gewobag-Konzern als Sponsor. So werden die Kosten von 180 000 Euro im Jahr gedeckt. „Und die Gehälter der Stipendiaten liegen sogar über den tarifrechtlichen Mindestgehältern für Anfängerverträge“, betont Bröking. Weil der Operndirektor sein Programm vor allem als Investition in künstlerische Nachhaltigkeit versteht, werden die Stipendiaten keineswegs als billige Kräfte für Nebenrollen und Kinderopern angesehen.

Als billiger Kleindarsteller fühlt sich Ingo Witzke schon lange nicht mehr. In der aktuellen Spielzeit ist er an sieben Produktionen der Komischen Oper beteiligt. Und ab kommender Saison hat er einen Festvertrag für das erste Fach am Staatstheater Cottbus.

Im April ist Ingo Witzke in vier Produktionen an der Komischen Oper zu erleben: „Don Pasquale“ (5., 8. und 16. 4.), „La Traviata“ (17. 4.), „Fidelio“ (25. 4.) sowie „Robin Hood“ (27. und 28. 4).

Daniel Wixforth

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