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Sandra Weihs, 1983 in Klagenfurt geboren, überzeugte mit ihrem Erstling "Das grenzenlose Und". Sie erhielt 2015 den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung.

© Theresa Pewal

Jugendroman "Das grenzenlose Und": Der Sinn und das Mädchen

Zurück ins Leben: Sandra Weihs’ Debüt-Roman „Das grenzenlose Und“ über die Identitätsfindung einer jungen Frau.

Marie ist 18 Jahre alt und wohnt in einer betreuten Wohngemeinschaft. Was sie nur kann, weil sie sich mit ihrem Therapeuten Willi auf einen „Kuhhandel“ eingelassen hat: Sie bleibt in Behandlung, arbeitet mit ihm und unternimmt ein Jahr lang keinen Selbstmordversuch. Denn ihre Diagnose lautet: schwere Borderline-Persönlichkeitsstörung, einhergehend mit Depressionen, Wutausbrüchen, starker suizidaler Gefährdung und Identitätsstörungen. Ein Fall für die geschlossene Jugendpsychiatrie – und sicher keiner für einen lichten, stimmungsvollen Roman.

Doch so wie die 1983 in Klagenfurt geborene Autorin Sandra Weihs in ihrem Debütroman „Das grenzenlose Und“ Maries Geschichte erzählt, im typischen Debütanten-Präsens zwar, aber doch mit einer gewissen Kraft und viel Sensibilität, so wie sie es versteht, Maries Wut und Weltfrust in durchaus produktive, erkenntnisreiche Bahnen zu lenken, gerade im zwischenmenschlichen Bereich, fällt doch viel Licht in diese Geschichte.

Auch wenn zunächst alles eine Idee zu gut zusammenpasst, schlechterdings: Marie hat ein Poster von Kurt Cobain in ihrem WG-Zimmer hängen, dem Nirvana-Frontmann, der sich im Alter von 27 Jahren erschossen hat; ihr Lieblingsbuch stammt von dem rumänischen Philosophen Émile M. Cioran, „Vom Nachteil, geboren zu sein“; mit ihren Eltern hat sie nichts mehr zu tun; die Frage nach dem Sinn des Lebens erscheint ihr so sinnlos wie dieses Leben; und ein Rasiermesser, um sich zu ritzen, hat sie auch stets griffbereit. Klar also, wohin ihr Weg sie führt. Doch dann trifft sie im Wartezimmer ihres Therapeuten den gleichaltrigen Emanuel, und der bittet sie, ihm beim Sterben zu helfen. Er hat allerdings einen triftigen Grund, sich umzubringen: Er leidet unter einem bösartigen Hirntumor und möchte sein Ende nicht von der Krankheit bestimmen lassen, wenn er womöglich nicht mehr klaren Kopfes oder bei Bewusstsein ist.

Die Sozialarbeiterin weiß, wovon sie erzählt

Sandra Weihs zeichnet Emanuels Zuhause als eine fast märchenhafte, leicht verwunschene Gegenwelt zu der von Marie: Er lebt in einer Villa zusammen mit seiner Großmutter Hilde, die früher Prostituierte war und in der Villa ein Bordell betrieb, zudem kommt noch seine hippieske Schwester Lara zu Besuch. Natürlich gibt es dann Spannungen, kommen Marie und Emanuel nicht so zum Sterben zusammen, wie sie sich das anfangs vorgenommen haben – das aber tut dem Roman nur gut, der sich von dem Porträt eines kranken, gestörten Mädchens zu einer Art Entwicklungsroman wandelt.

Marie erkennt hie und da Sinn im Leben, zum Beispiel als sie ihrer WG–Mitbewohnerin Amina bei deren Trauer um den Krebstod ihrer Mutter tröstend zur Seite steht: „Wir umarmen uns. Ich kann mich nicht erinnern, Amina je so nahe gewesen zu sein. Warum habe ich sie nicht schon früher umarmt? (...) Obwohl ich Amina trösten will, fühle ich mich getröstet.“ Oder, als sie eine Wand mit einem Kunstwerk vollsprüht und bei dieser Arbeit zu sich selbst findet. Oder sie – um ihrer selbst willen – Emanuel schließlich bittet, noch ein paar Wochen zu warten mit dem selbstbestimmten Sterben.

Sandra Weihs gelungener Debüt-Roman.
Sandra Weihs gelungener Debüt-Roman.

© FVA

Das klingt alles ein wenig wundersam und kitschig, doch die hauptberuflich als Sozialarbeiterin tätige Weihs versteht es, Maries Wandlung nachvollziehbar zu machen: in den Gesprächen, die diese führt, in ihren inneren Monologen. Das wirkt reflektiert, nicht zuletzt am Beispiel der sich ändernden Beziehung von Marie und Emanuel, und auch das Für und Wider von Emanuels Freitodentscheidung wird zwischen den drei Familienmitgliedern und Marie elaboriert dargestellt. Dass man bei Emanuels Geschichte an das Schicksal des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf denkt, dürfte Sandra Weihs bewusst gewesen sein – am Ende ist „Das grenzenlose Und“, bei aller Düsternis, aller Kenntnis des Psychopatholgischen und des Abseitigen, ein kluger, erfahrungsgesättigter Roman über die Identitätsfindung einer jungen Frau.

Sandra Weihs: Das grenzenlose Und. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 2015. 188 Seiten, 19,90 Euro. Ab 15 Jahren.

Weitere Rezensionen finden Sie auf unserer Themenseite.

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