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© Illustration: Pratt/Kult Editionen

Klassiker: Schöne fremde Welt

Irritierende Entdeckungsreise: Corto Malteses Abenteuer „Das Reich Mu“ wurde neu aufgelegt.

Der Satz ist Programm: „Ich glaube lieber an fremde und schöne Dinge, die ich noch nicht kenne, anstatt die Abkürzung einer unbarmherzigen Logik zu nehmen, die ich herunterwürgen musste, und von der ich mich nie ganz befreien konnte...“, spricht Corto Maltese zu seinem Freund Rasputin. Da haben sich beide schon hoffnungslos im „harmonischen Labyrinth“ unterhalb eines Vulkans einer nicht näher bezeichneten Karibikinsel verlaufen. In den Stunden davor hat Corto gegen seinen Schatten gekämpft, ist Treppen ins Nichts hinauf gestiegen, er hat mit einem toten sardischen Seefahrer gesprochen und mit Steinreliefs. Was halt alles so passiert, wenn man von magischen Pilzen isst, die sich selbst zum Verzehr anbieten…

So weit, so obskur. Nun war Corto Maltese, der Kapitän ohne Schiff, den sein Zeichner Hugo Pratt zwischen 1967 und 1988 in einer Vielzahl von Kurzgeschichten und einigen längeren Comicerzählungen durch eine vom ersten Weltkrieg erschütterte Welt schickte, schon öfters mit der Grauzone zwischen Traum und Realität in Berührung gekommen.

In Irland begegnete er einst neben deutschen U-Booten auch Kobolden und Feen („Ein Wintermorgentraum“), in Südamerika nicht nur Sklavenhändlern, sondern auch einem Soldaten, der in seinen Fieberträumen ein anderes, schöneres Leben lebte („Die Lagune der schönen Träume“).

Derart weit aus der Spur getragen wie in „Das Reich Mu“, dem erstmals 1988 erschienenen letzen Band der Serie, in dem Corto sich auf die Suche nach dem gleichnamigen mystischen, untergegangenen Inselreich macht, hat es ihn zuvor aber selten. Das geht soweit, dass sogar der sonst kein Wort zuviel verlierende Held gleich mehrfach – nicht beklagt – bemerkt, dass er nicht länger zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann.

Riesenschildkröten, Dialoge mit Steinköpfen

Auch der Leser kann bei der Lektüre der 170 Seiten langen Erzählung schnell vor diesem Problem stehen. Die frühen Abenteuer Corto Malteses standen deutlich in der Tradition der Geschichten Londons, Stevensons oder Melvilles – der lakonische Realismus war geradezu ihr Markenzeichen. Mit der Zeit jedoch löste sich Pratt zunehmend vom klassischen Abenteuerplot zugunsten von traumwandlerischen Exkursen. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete der lange vergriffene, nur als teueres Sammlerstück zu erstehende, jetzt endlich wieder vorliegende Band.

In Mu begegnet Corto Maya-Göttern, Riesenschildkröten, redet mit den Steinköpfen auf den Osterinseln. Besonders Liebhabern der alten Abenteuer wird der dabei teils esoterisch anmutenden Ton irritieren: „Wir sehen Lichtjahre entfernte Sterne, die längst erloschen sind“, referiert Corto, um davon ausgehend die Theorie zu entfalten, wir erhielten gleichermaßen „Tonwellen nach mehreren Tagen oder Jahrhunderten, die eines Toten, der vor Tausenden Jahren starb.“

Das selige Lächeln, dass er dabei auf den Lippen trägt, ist trotz der mit den Jahren immer dicker gewordenen, hier nun sogar manchmal extrem schnell ausgeführt wirkenden Zeichenstrichen Pratts deutlich zu erkennen. Nicht jeder Fan begrüßte diese künstlerische Veränderung.

Außer Frage jedoch steht die wunderschöne Aufmachung und Ausstattung des Hardcover-Bandes. Vor der eigentlichen Geschichte erfährt man in einem geradezu erschlagenden 100-seitigen Geleitwort Hintergründe zur Geschichte der Suche nach Atlantis sowie Mu und kann seitenweise Abbildungen aus einem alten Maya-Codex studieren, die sich auch in den Zeichnungen Pratts wieder finden. Die verknotete Handlung wirklich aufzulösen, vermögen die Anmerkungen aber nicht. Im Gegenteil. Erweitern sie den Deutungsspielraum doch deutlich. Der Preis dafür ist freilich, dass es dem Leser nach der Lektüre so gehen kann wie dem Titelhelden selbst. Befragt, was geschehen sei, sagte er: „So viel ist geschehen… Aber ich habe noch keinen klaren Gedanken dazu. Vielleicht beginnt die Suche wieder bei Null. Vielleicht…“

Hugo Pratt: „Corto Maltese – Das Reich Mu“, Kult Editionen, 270 Seiten, 39,95 Euro

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