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Zwischen Leben und Tod: Eine Szene aus „Kannas“.

© Avant-Verlag

Finnischer Comic „Kannas“ : Auf der Flucht vor der Roten Armee

Die Künstlerin Hanneriina Moisseinen erzählt in ihrem Comic „Kannas“ von einem tragischen Kapitel in der Geschichte Finnlands. Das Buch basiert auf Erlebnissen ihrer Familie.

Was bedeutet es, eine Grenze mit Russland zu teilen? Was für Westeuropäerinnen und -europäer nur eine abstrakte Überlegung ist, war für Finninnen und Finnen jahrhundertelang eine existenzielle Frage: Im 18. und 19. Jahrhundert war das Land immer wieder zu großen Teilen von Russland besetzt, zwischen 1939 und 1944 kam es zu zwei Kriegen mit der Sowjetunion.

Die Erinnerungen daran sind bis heute lebendig, wie der kürzlich auf Deutsch erschienene Comic „Kannas“ (Übersetzung aus dem Finnischen von Stefan Moster, avant, 240 S., 28 €) der finnischen Zeichnerin Hanneriina Moisseinen zeigt, den sie am 16. September bei einem Podiumsgespräch im Rahmen des „Graphic Novel Day“ beim Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) präsentiert.

„Kannas“ spielt in der karelischen Landenge „Kannas“ an der Grenze zur Sowjetunion, hier eine Szene daraus.
„Kannas“ spielt in der karelischen Landenge „Kannas“ an der Grenze zur Sowjetunion, hier eine Szene daraus.

© Avant-Verlag

Basierend auf Erinnerungen ihrer Großmutter erzählt sie darin von vielen Familien im Osten Finnlands, die im Sommer 1944 Hals über Kopf vor der Roten Armee flüchten mussten und dabei nur wenig Hab und Gut mitnehmen konnten. Der Comic erschien in Finnland schon 2016 und erhielt dort anderem den Staatspreis für Comic-Kunst.

100 Kilometer zu Fuß ohne Schuhe

Die Geschichte spielt in der karelischen Landenge Kannas an der Grenze zur Sowjetunion: Endlose Trecks von Bauernfamilien stapfen durch die Wälder, kleine Wagen mit Gepäck hinter sich herziehend. Manche laufen 100 Kilometer ohne Schuhe, nachdem die Rotarmisten ihre Häuser niedergebrannt haben.

Eine weitere Seite aus „Kannas“.
Eine weitere Seite aus „Kannas“.

© Avant-Verlag

Hauptfigur ist die junge Hirtin Maria, die darauf wartet, mit ihren Kühen das verwaiste Dorf zu verlassen. Sie schreibt mit einem ihr unbekannten Soldaten, auf dessen Briefwechselanzeige sie geantwortet hat.

Parallel dazu wird die Geschichte eines jungen karelischen Soldaten erzählt, der nach einem Angriff auf seine Einheit als einziger überlebt hat und nun nicht mehr weiß, ob er tot oder lebendig ist. Verwirrt läuft er als Deserteur durch die Wälder und wird von traumatischen Erinnerungen an den Krieg heimgesucht. Eines Abends taucht er im Dorf von Maria auf.

Der Krieg als Naturgewalt

Handlung gibt es wenig in „Kannas“, auch die politischen und militärischen Hintergründe werden nicht thematisiert. Der Comic ist keine analytische, sondern eine poetische Auseinandersetzung mit den Geschehnissen von 1944. Moisseinens Perspektive bleibt ganz bei den einfachen Menschen, die den Krieg erleben wie eine Naturgewalt.

Das Titelbild von „Kannas“.
Das Titelbild von „Kannas“.

© Avant-Verlag

Die Desorientierung und das Chaos der Flucht spiegeln sich in Moisseinens atmosphärischen Schwarzweiß-Zeichnungen wider: Aus unruhigen Spiralschraffuren schälen sich Wälder, Wiesen und Straßen heraus; der Heimatboden, den die Flüchtenden verlassen müssen, scheint zu flirren und sich aufzulösen.

Immer wieder wechseln sich die Zeichnungen mit historischen Fotos ab, durch die eine unerwartete Nähe entsteht: Es gibt dutzende Schnappschüsse von Flüchtenden, Panzern, brennenden Häusern, Beerdigungen und zerschossenen Bäumen. Trotz allem wirken die Bilder nicht grell, sondern besitzen die gleiche melancholische Ruhe wie der Comic selbst. Bei allem Kummer strahlen die abgebildeten Menschen viel Würde aus.

Angst, Resignation, Trauer

Eine ganz eigene Rolle im Comic spielen die Kühe: Meist der wichtigste Besitz der Bauernfamilien, sind sie stumme Begleiter der Flüchtenden, laufen alleingelassen durch die Wälder oder werden selbst Opfer der Menschen. Sinnbildlich durchleiden die unschuldigen Tiere ein ähnliches Schicksal wie die flüchtenden Menschen, die auf die Geschehnisse um sie herum keinen Einfluss haben.

Auch auf den Fotos ist das Nebeneinander von Mensch und Tier berührend eingefangen, etwa wenn am Wegesrand ein Soldat eine Kuh melkt oder ein Kind ein Kätzchen an sich klammert. Eine familiäre Verbundenheit ist spürbar, auch in den Porträtaufnahmen wird dies deutlich: Sowohl Menschen als auch Kühe zeigen Emotionen wie Angst, Resignation, Trauer und Ratlosigkeit in ihren Gesichtern.

Hanneriina Moisseinen ist seit langem eine wichtige Vertreterin der finnischen Comic-Szene, „Kannas“ ist ihre erste längere Veröffentlichung auf Deutsch. Die Lektüre ist eine gute Gelegenheit, mehr über die skandinavische Comic-Welt zu erfahren und besser zu verstehen, welches belastete Verhältnis das mittlerweile der Nato zugehörige Finnland zum großen Nachbarn im Osten hatte.

Bleibt zu hoffen, dass auch Moisseinens persönlichster Comic „Isä“ bald auf Deutsch erscheint. In diesem verarbeitet sie das rätselhafte Verschwinden ihres Vaters im Jahr 1989, dessen Schicksal bis heute ungeklärt ist.

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