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Übernommen? Brexit-Campaigner Boris Johnson

© AFP

Brexit: Der Bauch kann irren

Wofür in Demokratien Abgeordnete da sind – über Sinn und Unsinn von Referenden. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Arno Makowsky

Nach dem Brexit kommt der „Bregret“: das Bedauern, bei einer historischen Entscheidung womöglich einen historischen Fehler gemacht zu haben. Es dämmert vielen Briten, dass ihr harmloses Kreuzchen beim Referendum plötzlich unumkehrbare, unüberschaubare Folgen hat. Herrje, so war das doch nicht gemeint!

Ganz offensichtlich war vielen Wählern nicht bewusst, was sie da anrichten. Was sofort zur Frage führt: Hätten sie es dann tun dürfen? Ist es ein Fehler, über politische Fragen von solcher Tragweite das Volk in einem Referendum abstimmen zu lassen? „Das ist russisches Roulette für Demokratien“, sagt zum Beispiel der Harvard-Ökonomieprofessor Kenneth Rogoff. In Großbritannien sei es einfacher, die EU zu verlassen, als in den meisten anderen Gesellschaften, eine normale Ehescheidung durchzuziehen.

Auf regionaler Ebene können Volksentscheide viel Gutes bewirken

Dabei gehören in den westlichen Ländern, auch in Deutschland, Instrumente der direkten Demokratie ganz normal zum politischen Prozess. Bei Referenden steht eine Vorlage von Regierung oder Parlament zur Abstimmung, beim Volksentscheid geht es um ein konkretes politisches Anliegen, das aus dem Volk heraus an die Öffentlichkeit gebracht wird. Volksabstimmungen sind neben Wahlen im Grundgesetz (Artikel 20) ausdrücklich vorgesehen.

Es gibt viele Beispiele dafür, dass Volksentscheide gerade auf regionaler Ebene viel Gutes bewirken können. Ihr Ergebnis wird von den Bürgern in der Regel akzeptiert und führt vor allem bei Streitthemen zu einer Befriedung. Von „Stuttgart 21“ über das strikte Rauchverbot in Bayern bis zur Nutzung des Tempelhofer Felds in Berlin: Nach der Volksabstimmung ist Schluss mit Demos und Diskussionsschlachten. Direkte Demokratie wirkt direkt demokratisch.

Komplexe Fragen sind ungeeignet

Allerdings: Viel spricht dafür, dass komplexe Fragen à la Brexit für eine Volksabstimmung ungeeignet sind. Nicht umsonst sind Volksentscheide in Deutschland auf Bundesebene nicht zugelassen. Nicht weil man die Bürger von heiklen Entscheidungen fernhalten müsste. Sondern weil sich Fragen von nationaler Bedeutung nicht auf Ja oder Nein reduzieren lassen. Genau das war das Problem beim Brexit. Keine Bevormundung durch Bürokraten, sondern „Britain first!“. Keine Überforderung durch Migranten, sondern „Stop Refugees!“.

Populisten haben es leicht

Populisten haben es leicht – es gibt keine Abwägungen, keine Zwischentöne, keine Kompromisse. Genau darauf kommt es aber an bei so schwierigen Fragen wie den Vor- und Nachteilen einer EU-Mitgliedschaft. Und für eben diese (manchmal unattraktiven) Kompromisse gibt es Abgeordnete, die vom Volk gewählt wurden.

Wer über komplexe Themen mit Fachwissen und Erfahrung urteilt, kommt zu anderen Ergebnissen als Menschen, die aus dem Bauch heraus entscheiden. Nur 30 Prozent der britischen Unterhaus-Abgeordneten stimmten für den Brexit – aber 52 Prozent der Bürger. Dieses Missverhältnis offenbart die Haltung vieler Briten (und anderer Europäer), die parlamentarische Demokratie vertrete nicht mehr ihre Interessen. Dass sie es doch getan hätte, wird vielen jetzt schmerzlich bewusst.

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