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Ausschnitt aus dem Buchcover zu "Grenzen, Ränder, Niemandsländer" von Jochen Schimmang.

© promo / Verlag

Essayband von Jochen Schimmang: Besuche in der Niemandsbucht

Jochen Schimmang hat mit seinem Debütroman "Der schöne Vogel Phönix" die Neue Innerlichkeit der achtziger Jahre mitgeprägt. Mit seinem neuen Buch "Grenzen Ränder Niemandsländer" zieht er nun eine Lebensbilanz.

Wo das Erinnern endet, da beginnt das Erzählen. Im Dezember 1965 ist Jochen Schimmang zu einem Schülerzeitungskongress nach Hannover gefahren, zusammen mit einem Mitschüler, einem „hoch musikalischen Kontrabassspieler“. Gerade war das Beatles-Album „Rubber Soul“ herausgekommen. Im Zugabteil lasen sie eine Reportage aus der Zeitschrift „konkret“ über Liverpool: „An den Quellen des Beat“. Die beiden begannen Passagen aus den Songs von „Rubber Soul“ zu intonieren. Oder auch nicht. „Doch ich wünschte mir, es war so, dass wir sangen. Oder summten. Wenigstens Girl könnten wir doch gesummt haben. Und Norwegian Wood.“

Geboren am Rande des Zonenrands

In der Retrospektive verklärt sich das Leben eines Erzählers gerne in Richtung Heroismus. Immer neugierig gewesen, immer ganz vorne mit dabei. In Wirklichkeit verläuft Alltag meist unspektakulärer. Nicht ohne Selbstironie verteidigt Schimmang in „Grenzen Ränder Niemandsländer“, einer Mischung aus Autobiografie und Essaysammlung, das Randständige. Er wuchs „am Rande des Zonenrands“ im niedersächsischen Städtchen Northeim auf und ist stolz darauf, 1948 nicht in Deutschland, sondern in der Britischen Zone geboren worden zu sein. Auf der Flucht war er schon immer. Schimmang, der mit seinem Debütroman „Der schöne Vogel Phönix“ die Neue Innerlichkeit der achtziger Jahre mitprägte, ist vierzig Mal umgezogen, lebte länger in Berlin und Köln und hat sich nun wieder einen Platz weit draußen gesucht, in Oldenburg.

Das Niemandsland glorifiziert der Autor als „herrschaftsfreies Territorium“. Das Gegenteil erkennt er in der „gated community“, in der sich die Profiteure der Globalisierung gegen diese Globalisierung einbunkern würden. „Mitte“ ist für ihn ein Schimpfwort, die „Neue Mitte“ von Tony Blair und Gerhard Schröder verabscheut er genauso wie die Hipster-Selbstgefälligkeit von Berlin-Mitte. Von der Mitte aus, argumentiert er mit Foucault, lässt sich alles erfassen und überwachen. Doch die Provinz, das Niemandsland leistet Widerstand. Von altlinkem Furor ist diese erhellende „Geländekunde“ durchtränkt und von einer nostalgischen Sehnsucht, die sich aus einer bis in die Gründungsgeschichte der alten Bundesrepublik reichenden Anschauung speist.

Handke brät Pilze für ihn

Am schönsten ist das mitunter wild assoziierende Buch, wenn es sich in einer Ortsbeschreibung konkretisiert. So ist der dänische Fährhafen Rødbyhavn, den Schimmang als 20-jähriger Bundeswehrsoldat auf einer Trampreise nach Kopenhagen kennenlernte, für ihn bis heute der „Inbegriff aller transistorischen Orte“. Inzwischen zählt Rødbyhavn 2000 Einwohner, damals waren es vielleicht 20. Schimmang schwärmt von der Schönheit des Sommermorgens von 1968. „Die wenigen, ausnahmslos funktionalen Häuser oder eher Schuppen sind der tiefste Eindruck dieser Reise geblieben.“

Buchcover.
Buchcover.

© promo / Verlag

Als er 1996 in Paris lebt, besucht er Peter Handke in dessen Haus in Chaville, einem Vorort. Der Verteidiger des Niemandslands beim Autor der gerade erschienenen „Niemandsbucht“. Schimmang führt für ein Radiofeature ein Interview zu Emmanuel Bove mit dem Bove-Übersetzer Handke. Danach machen sie einen Spaziergang, besuchen ein Restaurant, sprechen „über alles Mögliche, am wenigsten über ihn selbst, übers Lesen, übers lange Sitzen im Dunkeln“. Beim nächsten Mal brät Handke dem Besucher Pilze. Dann, beim dritten Treffen, kommt es zum Eklat. Man speist mit Freunden in einem libanesischen Lokal. Bei der Heimfahrt im Taxi bricht der Zorn aus Peter Handke heraus. Er beschuldigt den Fahrer, Umwege zu fahren, „stieg aus dem Auto, hüpfte über die Leitplanke und verschwand die Böschung hinunter, sofort vom Dunkel verschluckt“. Geradewegs hinaus: ins Abseits.
Jochen Schimmang: Grenzen Ränder Niemandsländer. 51 Geländegänge. Edition Nautilus, Hamburg 2014, 156 S., 19,90 €.

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