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Zwischen Grabsteinen. Das Ensemble von "Les Ballets C de la B" in Aktion.

© Chris Van de Burght/Berliner Festspiele

Alain Platel in Berlin: Tanz auf den Grabstelen

Mozart, afrikanisch: Der flämische Kultchoreograf Alain Platel zeigt „Requiem pour L.“ im Haus der Berliner Festspiele.

Stirbt sie jetzt oder schläft sie noch? Unten singen sie Mozart und Afrikanisches, spielen Akkordeon, E-Gitarre und Daumenklavier und tanzen ein wenig im Stelenfeld herum, das hier in Berlin unweigerlich Assoziationen an das Holocaust-Mahnmal weckt. Aber die Truppe kann machen, was sie will, die Frau oben auf der Videoleinwand zieht unweigerlich alle Blicke auf sich. Ein Totenbett mit geblümten Laken, Schwarz-Weiß-Bilder in extremer Zeitlupe – stirbt sie jetzt oder schläft sie noch?

Die Frau, L., elle, eine namenlose Sie. sie öffnet die Augen, schließt sie wieder, hebt die Hand zur Schläfe, fährt mit der Zunge über die Lippen, keiner befeuchtet sie ihr, warum eigentlich nicht. Sie ist offenbar von ihren Liebsten umgeben, mal gerät ein Haarschopf ins Bild, mal eine streichelnde Hand. Irgendwann kippt der Kopf der Sterbenden zur Seite, der Mund öffnet sich, der Tod kommt unmerklich. Und unten auf der Bühne liegen sie auf den Gräbern und singen „Miserere nobis“, erbarme dich unser, nicht aus Mozarts „Requiem“, das kommt da nicht vor, sondern aus einer der C-Dur-Messen. Es stimmt ja auch, dass unsereins zum Gotterbarmen ist und auf sich selbst zurückgeworfen, wenn ein anderer stirbt.

Eine Sterbende zeigen, überlebensgroß: ein großer Tabubruch oder eine blöde Obszönität? Die Gefilmte, so liest man, hat Platel die Verwendung des Videomaterials gestattet. Aber die Moralfrage stellt sich deshalb bei dieser Uraufführung von Platels Company „Les Ballets C de la B“ (die Produktion wandert von Berlin zunächst weiter nach München, Gent und Brüssel), weil die Hinzutat von Gesang, Musik und Performance, also die Überhöhung des Sterbeakts, dessen Realität nicht beikommt. Was wiederum an der künstlerischen Schwäche und den handwerklichen Mängeln der Produktion liegt. Beim „Lacrimosa“ zum Beispiel wird mit Taschentüchern gewedelt, ach ja.

Platel befasst sich mit Tod und Trauer

Alain Platel, der flämische Kultchoreograf und -regisseur, der Psychologe und Therapeut in Europas Tanztheaterszene, befasst sich mit Tod und Trauer, warum nicht. Und ja, schöne Idee des Komponisten Fabrizio Cassol, Mozarts ohnehin Fragment gebliebenes „Requiem“ noch weiter zu fragmentieren und mit afrikanischer Musik zu amalgamieren, ähnlich derjenigen von Platels und Cassols Kongo-Konzertabend „Coup Fatal“ 2015. Rumba- und Reggae-Anklänge, Jazz, Gospel, Stammesgesänge und -tänze – und nach dem „Miserere“ formiert sich die internationale Truppe von 14 Performern auf der Bühne zur Stampf- und Stepp-Choreografie, das ist der Schluss. Aber was singen sie eigentlich: „Erbarme dich“ auf Suaheli oder Lingala? Ist es egal, was der Text bedeutet und ob das Publikum ihn versteht? Hauptsache Körper, Hauptsache physische Energie, schließlich kommen ein paar Sänger aus Kinshasa? Unangenehm, wenn ausgerechnet ein Abend, an dem sich die Kulturen auf Augenhöhe begegnen, solche Gedanken provoziert.

Platel und Cassol versammeln Trauer- und Schmerzrituale, von den barocken Seufzern im „Lacrimosa“ über die afrikanische Feier des Lebens im Angesicht des Todes bis zu den hohen sirrenden Rufen der Frauen. Trance, Trauma und Transformation, Beschwörungen, Evokationen, die Klage, der Schrei: All das kommt vor, aber die Durchdringung der musikalischen Welten bleibt beliebig. Best-Off-Mozart trifft Ethnosound; die Musik schrumpft zur Marke, erst recht angesichts des Sterbevideos. Die Gestik erschöpft sich in Pantomime-Skizzen, flattrigen Händen, kurzen Schmerzzuckungen und Clubbing-Ekstasen. Und die drei lyrischen Sänger, die Sopranistin Nobulumko Mngxekeza, der Countertenor Stephen Diaz und der Bassist Owen Metsileng lassen bei den A-cappella-Passagen eine saubere Intonation vermissen. Egal, weil sie sich ja zwischen den Sphären bewegen?

Die Mechanismen des Marsches

Alain Platel befasst sich seit drei Jahrzehnten mit den Klassikern der abendländischen Musik. In Stücken wie „Vsprs“, „Pitié“, „Wolf“, „Tauberbach“ und zuletzt „Nicht schlafen“ hat er Bach, Mozart, Monteverdi oder Mahler zauberhafte Metamorphosen angedeihen lassen, etwa gemeinsam mit gehörlosen Sängern. Er hat die Mechanismen des Marschs studiert, die Geheimnisse der Schönheit sowie das Wesen von Körper und Stimme erkundet, angesichts ihrer Beschädigungen, ihrer Blessuren. Der Mensch, ein Wunder der Unvollkommenheit. Bei den Trauernden in „Requiem pour L.“ findet sich hingegen nichts Befremdliches. Keine Eigentümlichkeit, keine Hysterie: eine fast gefällige Inszenierung unter dem umsichtigen Dirigat von E-Gitarrist Rodriguez Vangama – wäre da nicht das verstörende Video. Ist Verstörung ein Wert an sich?

Besitzen die zackig-aggressiven Figuren von Mozarts „Confutatis“, der Horror seines „Rex tremendae“ nicht größere Wucht als die von Cassol geglättete, verpoppte Version? Warum nicht das irisirend bodenlose „Voca me“ im Bund mit den sirrenden afrikanischen Rufen? Zwei Momente haben es trotzdem in sich, wenn João Barradas sein Akkordeon jeglichen Tons entkleidet und nur noch Luft strömen lässt und wenn später Euphonium-Spieler Niels Van Heertum das Gleiche mit seiner Tuba veranstaltet. Ein Pusten, ein Hauch, letzte Atemzüge – dann wird wieder getanzt.

Haus der Berliner Festspiele, noch einmal diesen Sonnabend, 20 Uhr

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