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Regelmäßig in Verbindung: Katja beim Onlineunterricht mit ihrer Kyjiwer Klassenlehrerin Iryna Yurievna.

© Valeriia Semeniuk/TSP

Katja, Oleksandr und all die anderen : Lernen zwischen Kyjiw und dem Rest der Welt

Etwa ein Viertel der ukrainischen Schulkinder hat das Land wegen des Krieges verlassen. Viele von ihnen lernen dennoch weiter in ukrainischen Schulen.

„In Kyjiw ist es 9.56 Uhr, bei euch ist es 8.56 Uhr. Wir machen jetzt 15 Minuten Pause“, sagt Iryna Yurievna, Lehrerin an der Kyjiwer Schule 53. „Bei euch“ – das heißt nach mitteleuropäischer Zeit. Auf dem Zoom-Bildschirm vor Iryna Yurievna sind die Schüler zu sehen, die wegen des Krieges ins Ausland geflohen sind.

Sie befinden sich jetzt in verschiedenen Ländern und besuchen die dortigen Schulen. Gleichzeitig lernen sie aber immer noch in der Ukraine: Mehrmals pro Woche nehmen sie über Zoom am Unterricht in der Grundschulklasse von Iryna Yurievna teil, die sie vor dem Krieg unterrichtet hat. „Ich glaube, dass die Kinder, die im Ausland sind, durch den Krieg noch stärker traumatisiert wurden als die, die in der Ukraine geblieben sind. Denn sie sind von zu Hause weggerissen worden, aus ihrem heimischen Nest. Sie alle sagen mir: Ich will nach Hause, in die Ukraine.“

Alle sind viel ernster geworden. Einige meiner Klassenkameraden habe ich gar nicht wiedererkannt.

Katja Mustafina, Schülerin

Nur neun von 29 Schülern sind noch da

Unter ihnen ist meine Tochter Katja Mustafina, die vor wenigen Tagen ihren zehnten Geburtstag feierte. Sie lebt seit mehr als einem Jahr in Berlin und wurde vor kurzem von der Willkommens- in eine Regelklasse versetzt wurde. Während der Ferien reisen wir nach Kyjiw, um ihren Vater, ihre Lehrerin und ihre Mitschüler zu besuchen. „Es ist, als ob sich die Schule geleert hätte“, sagt Katja. „Alle sind viel ernster geworden, erwachsener. Einige meiner Klassenkameraden habe ich gar nicht wiedererkannt.“

Während es vor dem Krieg 29 Schüler in ihrer Klasse gab, sind es jetzt nur noch neun. „Wir sind schon lange an den Krieg gewöhnt, wir sind es gewohnt, während des Luftalarms im Keller zu sitzen. Deshalb haben wir keine Angst mehr“, sagt ihr Klassenkamerad Oleksandr. Fünf weitere Kinder sind in Kyjiw geblieben, sie besuchen aber den Unterricht ebenfalls nur online. Ihre Eltern zögern, sie in die Schule zu schicken, obwohl es in dem Gebäude einen Luftschutzkeller gibt.

Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder weiter am ukrainischen Unterricht teilnehmen.

Iryna Yurievna, Katjas Klassenlehrerin in Kyjiw

Die anderen Kinder aus Katjas Kyjiwer Klasse befinden sich in Polen, Deutschland und sichereren Städten in der Westukraine. „Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder weiter am ukrainischen Unterricht teilnehmen, weil die Familien planen, in die Ukraine zurückzukehren“, erläutert Iryna Yurievna. Sie würden befürchten, dass es für die Kinder sonst schwierig wäre, später den Unterrichtsstoff in den Fächern nachzuholen, die in ausländischen Schulen nicht oder anders unterrichtet werden. „In Mathematik beispielsweise lernen meine Schüler jetzt im Ausland, was sie letztes Jahr in der Ukraine gelernt haben“, sagt die Lehrerin.

Katja nimmt an ihrer Berliner Schule am Theaterunterricht teil.

© Tagesspiegel/Valeriia Semeniuk

Fast die Hälfte der Schüler lernt in beiden Schulsytemen

Vor dem Krieg gab es in der Ukraine 4,2 Millionen Schülerinnen und Schüler. Es gibt keine genauen Angaben darüber, wie viele von ihnen das Land verlassen haben. Nach Angaben der EU besuchen 775.000 ukrainische Flüchtlinge Schulen in den Mitgliedsstaaten, davon über 200.000 Schulen in Deutschland und rund 7600 in Berlin.

Die Gesamtzahl ist höher, da einige Familien in Länder außerhalb der EU ausgewandert sind. Das ukrainische Bildungsministerium geht davon aus, dass fast die Hälfte der ukrainischen Schülerinnen und Schüler weiterhin an ukrainischem Unterricht teilnehmen.

Video-Dokumentation: Zu Besuch an Katjas Kyjiwer Schule

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Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu tun. Die einfachere ist der Fernunterricht, bei dem ein Kind über Zoom am Unterricht in seiner ukrainischen Schule teilnimmt. Nach der Covid-Pandemie ist diese Praxis den Kindern bereits vertraut. Ungefähr die Hälfte der ukrainischen Kinder, die wegen des Krieges nach Polen geflüchtet sind, setzen ihre Ausbildung auf diese Weise fort und besuchen gar keine polnische Schule: Für Flüchtlinge ist der Schulbesuch dort noch nicht verpflichtend.

Andererseits ist es von Deutschland und von vielen anderen EU-Ländern aus oft kaum möglich, am ukrainischen Unterricht teilzunehmen, weil sich die Lernzeiten überschneiden. Deshalb gibt es eine zweite Möglichkeit: Die Eltern organisieren und beaufsichtigen die Ausbildung. Das Kind legt dann in der ukrainischen Schule Prüfungen und Tests ab. 

Zusatzunterricht nachmittags oder am Wochenende

In der Praxis stellen sich die meisten ukrainischen Schulen jedoch der Verantwortung, ihre Kinder im Ausland zu unterrichten. Für diese Kinder wird deshalb am Nachmittag oder an den Wochenenden Zusatzunterricht organisiert. Darüber hinaus stellen die Schulen den geflüchteten Kindern eine Vielzahl von Online-Hilfen zur Verfügung. Schließlich sind nicht nur die Schüler daran interessiert, in Kontakt zu bleiben, sondern auch die Lehrer. Falls ab dem nächsten Schuljahr viele Kinder das parallele Lernen aufgeben würden, könnten einige Lehrer entlassen werden. 

Der Parallelunterricht gilt nach Ansicht vieler geflüchteter ukrainischer Familien als gute temporäre Lösung. Aber wenn der Krieg länger dauern sollte, droht er für die Kinder zu einer großen Belastung werden. Eine Erleichterung für die ukrainischen Flüchtlinge könnte es sein, dass ukrainische Schulen die in anderen europäischen Ländern erworbenen Noten anerkennen. In diesem Fall müssten die Kinder nur drei Fächer – Sprache, Literatur und Geschichte der Ukraine – aus der Ferne oder selbstständig lernen. Bisher wurde diese Entscheidung aber noch nicht getroffen, da die Lehrpläne und Benotungssysteme sehr unterschiedlich sind.

Deutsch ist erste Fremdsprache an Katjas Schule in Kyjiw

„Manchmal kann es schwierig sein, an zwei Schulen gleichzeitig zu lernen“, hat auch Katja längst festgestellt. Aber sie setzt hinzu: „Ich weiß, warum ich das tue: Ich möchte in die Ukraine zurückkehren, wenn der Krieg vorbei ist.“ Das bedeute nur mal, dass sie „lernen muss, was ihre Klassenkameraden lernen“, damit sie die Klasse nach ihrer Rückkehr nicht wiederholen muss.

Was Katja die Situation erleichtert, ist, dass sie einen Teil des Stoffs, den sie an der Berliner Schule gerade lernt, schon vorher kannte: „Englisch habe ich zum Beispiel in der Ukraine mit einem Tutor gelernt, also habe ich hier keine Probleme“, hat die Zehnjährige inzwischen festgestellt.

Auch der Mathematikunterricht sei kein Problem, weil sie „in Mathe in der ukrainischen Schule ein bisschen weiter sind“. In der Ukraine hätten sie zum Beispiel schon im September Division mit dem Rest gelernt, in Deutschland erst jetzt.

Andererseits profitiert sie davon, dass an Deutsch an ihrer ukrainischen Schule erste Fremdsprache ist: Den Unterricht muss sie natürlich nicht online besuchen, weil sie Deutsch ja in Berlin lernt. Und was ist nun das Schwierigste für Katja? Der Deutschunterricht in Berlin.

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