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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #45: Migrationsnarrative und ihre Instrumentalisierung

Melonis Bluffs +++ Grüner Rechtsruck in Deutschland +++ Migration Top-Thema vor Wahlen in der Slowakei +++ Zahl der Woche: 29 Prozent +++ Arbeitskräftemangel in der Ukraine

Hallo aus Madrid,

das Thema Migration beherrscht (wieder einmal) die öffentliche Debatte. Am Dienstagmorgen sah ich mir einen internationalen Pressespiegel an und war zunächst überrascht, dass in polnischen Medien ausgiebig über die Anlandung eines Geflüchtetenboots an der spanischen Küste debattiert wurde. Warum fand sich eine solche Kurzmeldung in den Schlagzeilen vieler polnischer Zeitungen?

Die Antwort: In Polen stehen Parlamentswahlen an. Das gilt auch in der Slowakei, wo Anti-Migrationsnarrative den Wahlkampf beherrschen. Unsere italienische Kollegin berichtet, wie die rechte Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni, mit ihren vermeintlich simplen Lösungen sogar bei der EU-Spitze zu punkten scheint – ungeachtet ihrer tatsächlichen Erfolgsbilanz.

Derweil gehen die Migrationszahlen auf der Balkanroute offenbar zurück. Das bedeutet aber nicht, dass dadurch das menschliche Leid vor Ort kleiner geworden ist, schreibt unser Kollege aus Skopje.

Alicia Alamillos, dieswöchige Chefredakteurin


Melonis Bluffs

Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen bei der internationalen Konferenz über Migration in Rom.

© action press/Cecilia Fabiano /LaPresse ceciliafabiano

Eines der beliebtesten Schlagworte der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist ihre angestrebte „Neugestaltung“ der EU-Migrationspolitik. In den vergangenen Monaten ist sie mehrfach zusammen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufgetreten und hat dargelegt, was sie in dieser Frage bereits getan habe und weiterhin tun will.

Mitte August, als die meisten Italienerinnen und Italiener im Urlaub waren, enthüllten Daten des Innenministeriums allerdings die Wahrheit: Im Jahr 2023 haben sich die Anlandungen von Migranten im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2023 kamen mehr als 90.000 Menschen in Italien an. Im gleichen Zeitraum im Jahr 2022 (als Meloni noch nicht regierte) waren es „nur“ knapp 41.000.

Migrationsbewegungen aus Tunesien haben sich im Vergleich zum Vorjahr sogar fast verdreifacht.

Erinnern wir uns an das jüngste Bild von Giorgia Meloni neben Ursula von der Leyen und dem tunesischen Autokraten Kais Saied. Die italienische Ministerpräsidentin wirkte triumphierend: Sie tat so, als würde sich mit dem Abkommen zwischen der EU und Tunesien die sogenannte „Migrantenfrage“ in Luft auflösen.

Die EU-Kommissionspräsidentin erklärte in ihrer Rede zur Lage der Union Mitte September, sie wolle weitere ähnliche Abkommen mit anderen Ländern unterzeichnen. Meloni und von der Leyen schienen geeinter denn je.

Vermutlich waren (oder sind) sie das sogar. Allerdings ist Melonis „Erfolg“ bei der EU-Spitze ebenso ein Bluff wie ihre bisher leeren Versprechen, die Migrationszahlen zu reduzieren. Bis heute ist der einzige Punkt, in dem Meloni wirklich Einfluss auf die gesamte Europäische Union gehabt hat, die endgültige Aufgabe des Solidaritätsprinzips.

Bis vor ein paar Jahren ging es in der Debatte zwischen den EU-Regierungen vor allem um die Umsiedlung von Geflüchteten. Italien war aus offensichtlichen Gründen immer an diesem Thema interessiert. Nun, wo die radikale Rechte in Italien an der Macht ist, wird das Thema von der Ministerpräsidentin hingegen nicht mehr diskutiert. Für sie ist ausschließlich ein striktes Grenzregime von Interesse.

Den Bürgerinnen und Bürger von Lampedusa, die aktuell wieder sehr viele Anlandungen von Migranten erleben, bringt das nichts. Ihnen wäre zumindest ein wenig geholfen, wenn Meloni eine andere klare Grenze ziehen könnte – zwischen ihren Narrativen und Versprechen einerseits, und der Realität andererseits.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.

Grüner Rechtsruck in Deutschland

Vor nicht allzu langer Zeit konnte man die grüne Co-Parteivorsitzende Ricarda Lang noch auf Demonstrationen für mehr Geflüchtetenaufnahmen in Deutschland sehen.

Vor einigen Tagen meldete sie sich jedoch zum Thema Abschiebung von Asylbewerbern ohne klare Aufenthaltsberechtigung in Deutschland zu Wort und machte eine interessante Aussage. Lang forderte: „Wir erwarten, dass es von [Innenministerin] Nancy Faeser und [dem FDP-Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen] Joachim Stamp endlich Fortschritte gibt, was das Thema Rückführungsankommen angeht.“

In den vorherigen Monaten hatten die Union, die FDP und die SPD ihrerseits strengere Migrationsregelungen gefordert.

Der Sinneswandel in der Asylfrage mag mit der grünen Angst vor Niederlagen bei den anstehenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen Anfang Oktober zusammenhängen. Doch er ist ebenso Teil eines allgemeinen Trends: Der Diskurs in Deutschland verschiebt sich insgesamt nach rechts.

So hegen laut einer aktuellen Studie 16,2 Prozent der Deutschen „fremdenfeindliche“ Einstellungen. Vor zwei Jahren waren es lediglich 4,5 Prozent.

Teresa Roelcke ist Journalistin beim Tagesspiegel aus Berlin.

Migration Top-Thema vor Wahlen in der Slowakei

In Interview spricht der Politikwissenschaftler Jozef Lenč über die anstehenden Parlamentswahlen in der Slowakei und das aktuelle Top-Thema Migration. Lenč lehrt an der Kyrill und Methodius Universität in Trvana.

Laut einer Ipsos-Studie ist im Vorfeld der Parlamentswahlen illegale Immigration eines der wichtigsten Themen für die slowakischen Wählerinnen und Wähler. Viele Parteien fokussieren sich darauf, allen voran die Ex-Regierungspartei Smer, die in den Umfragen aktuell auch in Front liegt. Woher kommt dieser Fokus auf illegale Migration?

Narrative zu illegaler Migration können jeder politischen Partei helfen, wenn sie das Thema richtig angeht. Dazu gehören übrigens auch Parteien, die positive Lösungen für die sogenannte Migrationskrise haben. Meistens versuchen jedoch politische Parteien der extremen oder Neuen Rechten, dadurch an Popularität zu gewinnen.

Die [linkspopulistische] Smer hat das Thema Migration für sich als eine Möglichkeit erkannt, die aktuelle Stimmung in der Gesellschaft auszunutzen. Außerdem hofft sie, damit Ermittlungen wegen Korruption oder das undankbare Thema Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme des Landes überspielen zu können.

Warum ist illegale Migration gerade in den vergangenen Wochen in der Politik und in den Medien so wichtig geworden?

Das Thema illegale Migration wird uns noch lange begleiten. Wenn in dieser Hinsicht aber nichts besonders Spektakuläres passiert, wird das Gesprächsthema wieder durch andere Inhalte verdrängt – vor seitens der rechten Parteien, wenn sie merken, dass daraus kein (alleiniger) Profit mehr geschlagen werden kann. Diese Parteien werden sich dann beispielsweise wieder dem „Kampf gegen den woken Liberalismus“ zuwenden.

Diverse Parteien sowie die aktuelle Übergangsregierung sehen die Schuld für das wahrgenommene „Migrationsproblem“ bei der Ex-Regierungspartei. Der Beliebtheit der Smer bei den Wählern scheint dies aber keinen Abbruch zu tun. Warum?

Ein Grund dürfte die sogenannte Bestätigungsregel sein. [Anm.: Auf Grundlage eines von der vormaligen Smer-Regierung verabschiedeten Gesetzes stellt die Slowakei illegalen Migranten Bestätigungsschreiben aus, die ihnen den weiteren Aufenthalt in der Slowakei für einen bestimmten Zeitraum erlaubt, ihnen aber nicht das Recht auf den Aufenthalt im Schengen-Raum garantiert].

Die Auswirkungen einer möglichen Aufhebung dieser „Bestätigungsregelung“ würden sich erst in einigen Monaten zeigen. Einige Wählerinnen und Wähler wissen möglicherweise nicht einmal, worum es bei diesen Regelungen geht. Für sie ist es daher ausreichend, wenn Smer-Chef Robert Fico aktuell mit dem Finger auf illegale Migranten zeigt und diese zum Sündenbock macht.

Peter Dlhopolec schreibt aus Bratislava für The Slovak Spectator, die einzige englischsprachige Zeitung in der Slowakei.

Zahl der Woche: 29 Prozent

Laut Statistiken der EU-Grenzschutzbehörde Frontex haben im ersten Halbjahr 2023 rund 29 Prozent weniger Migranten die sogenannte Balkanroute benutzt. Dennoch bleibt der Balkan nach dem Mittelmeer die wichtigste Migrationsroute nach Europa.

Die Zahlen sind jedoch trügerisch: Trotz der sinkenden Zahlen geht das menschliche Leiden vor Ort weiter. Das Rote Kreuz in Nordmazedonien warnt, dass tausende Menschen auf der Balkanroute dringend Hilfe benötigen. Migranten würden oft Opfer von Menschenhändlern, geschlagen oder ausgeraubt. Einige, die versuchen, auf Zügen oder im Unterboden mitzufahren, erleiden Stromschläge und schwere Verbrennungen.

Siniša-Jakov Marusic ist Journalist in Skopje. Er schreibt für Balkan Insight, vor allem über Rechtsfragen in der Balkan-Region.

Arbeitskräftemangel in der Ukraine

Freiwillige räumen die Trümmer einer niedergebrannten Unterkunft für Katzen in Kiew weg.

© IMAGO/SOPA Images/IMAGO/Oleksii Chumachenko / SOPA Images

Im Sommer haben viele meiner Freunde, die bei NGOs oder in Regierungsorganisationen in der Ukraine arbeiten, ein überraschendes Problem in Kriegszeiten angesprochen. Es gebe sehr viele freie Stellen, aber kaum jemanden, der sie besetzen könnte.

Mehrere humanitäre Stiftungen hatten neue Büros in der Ukraine eröffnet und westliche Partner ihre Aktivitäten ausgeweitet, um stabile und gut bezahlte Arbeitsplätze für Einheimische zu schaffen. Das Problem ist jedoch, passende Leute für diese Jobs zu finden.

Dabei ist es ein großes Hindernis, dass die meisten dieser Stellen gute Englischkenntnisse, einen Universitätsabschluss und fundierte Berufserfahrung voraussetzen. Ukrainerinnen und Ukrainer, die über diese Eigenschaften verfügen, gehören in der Regel zur oberen Mittelschicht und sind es gewohnt, international mobil zu sein.

Mit Kriegsausbruch haben viele von ihnen daher die Ukraine verlassen. Das ist eine bedeutsame, wenn auch teilweise unerwartete Form der kriegsbedingten Migration.

Die Personalkrise macht sich inzwischen in der gesamten Wirtschaft bemerkbar. Ein Kohlebergwerk in Pokrowsk, einer Stadt 40 Kilometer von der Frontlinie entfernt, zahlt seinen Arbeitern inzwischen das doppelte Gehalt – und kann trotzdem nicht genügend neue Kollegen anwerben. Einige Männer haben die Stadt verlassen, andere sind zur Armee gegangen, wieder andere sind kriegsversehrt und daher arbeitsunfähig zurückgekehrt.

Dass viele Menschen der Ukraine den Rücken gekehrt haben, hat diverse Auswirkungen. Beispielsweise sind viele meiner Freunde im Ausland, und es ist nicht klar, ob sie jemals zurückkehren werden. Um in Zukunft überleben zu können, wird die Ukraine schlichtweg mehr Menschen brauchen; möglicherweise reden wir hier von Millionen.

Diese Menschen müssen von irgendwoher kommen. Es darf bezweifelt werden, dass dies Deutsche oder Spanier sein werden. Zukünftige Einwanderer in die Ukraine werden höchstwahrscheinlich aus zentral- oder südostasiatischen Ländern kommen. Ukrainische Ökonomen und Demografen debattieren diese zukünftigen Migrationsbewegungen bereits.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.


Danke, dass Sie die 45. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Im nächsten Monat stehen in Polen Wahlen an; 2024 dann die EU-Parlamentswahlen. Es ist davon auszugehen, dass das Thema Migration bei beiden Abstimmungen ein wichtiges Thema sein wird – und von diversen Seiten für die jeweiligen Zwecke ausgeschlachtet wird.

Eine echte Lösung für die Migrationsthematik scheint derweil nach wie vor in weiter Ferne. Wir alle sollten kritisch bleiben und stets hinterfragen, mit welchen Hintergedanken und potenziellem Nutzen einzelne Migrationsnarrative gewählt werden.

Bis nächste Woche!

Alicia Alamillos

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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