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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #25: Kampf um die Renten

+++ Die Rentenreform ist Müll +++ Mein Renten-Plan: Arbeit bis zum Tod +++ Strengt euch halt ein bisschen an +++ Von Häuslebauern und Renten-Fallen +++ „Meine Rente darf nicht noch weiter steigen“ +++

Hallo aus Paris, 

am Donnerstag vergangener Woche bin ich unmittelbar nach unserem Redaktionstreffen für European Focus in Paris auf die Straße gegangen, um gegen die Rentenreform zu protestieren. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen von Libération demonstrierten wir Seite an Seite mit hunderttausenden Streikenden. Wie so oft endete die Demonstration übel: ich ging mit in Mitleidenschaft gezogenen Lungen und vom Tränengas geröteten Augen nach Hause.

Von außerhalb Frankreichs betrachtet sind diese seit mehr als zwei Monaten andauernden Demonstrationen möglicherweise schwer zu verstehen. Von außen wird immer wieder betont, die Franzosen hätten eines der niedrigsten Renteneintrittsalter in Europa. Im Vergleich zu anderen Ländern sind wir tatsächlich privilegiert. Ich muss nicht wie mein estnischer Kollege darüber nachdenken, bis in meine späten Siebziger zu arbeiten – oder fast zwingend eine Wohnung zu kaufen, um mir ein ausreichendes Einkommen für das Alter zu sichern, wie von unseren Partnern in Polen berichtet wird.

Dennoch: Unsere Eltern und Großeltern haben für die staatliche Finanzierung der Renten und die kürzeren Arbeitszeiten gekämpft, die wir heute genießen. Diese Rechte zu sichern und zu erhalten, ist nun unsere Aufgabe. Dafür wollen wir kämpfen.

Nelly Didelot, dieswöchige Chefredakteurin

Die Rentenreform ist Müll

„Ich weiß nicht, ob der Regierung bewusst ist, dass wir früher sterben als andere,“ sagt Daouda, ein 49-jähriger Müllmann aus Paris. Seit dem 6. März streiken er und seine Kollegen gegen die französische Rentenreform, mit der das Renteneintrittsalter um zwei Jahre angehoben werden soll.

Aktuell können Abfallentsorger, die im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, aufgrund der hohen körperlichen Anforderungen und Anstrengungen des Jobs mit 57 Jahren in Rente gehen. Mit dem neuen Gesetz wird dieses Alter auf 59 Jahre angehoben. Für diejenigen, die bei Privatunternehmen angestellt sind, steigt das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre.

„Die Leute haben keine Ahnung, was dieser Beruf mit sich bringt,“ meint auch der 64-jährige Pascal, ein pensionierter Müllmann. Er hat sich den Streikposten im Pariser Vorort Ivry-sur-Seine angeschlossen, um seine ehemaligen Kollegen zu unterstützen.

Die Ärztin Isabelle Salmon, die über die Arbeitsbedingungen in diesem Beruf promoviert hat, betont ebenfalls, dass der Job als Müllmann „wahrscheinlich einer der anstrengendsten ist, weil er körperliche Belastungen, unbequeme Körperhaltungen und schlechte Witterungsbedingungen in sich vereint“.

Für die Abfallwirtschaftler von Paris war es eine schwierige Entscheidung, in den Dauerstreik zu treten. David (49) erzählt, er werde Probleme bekommen, seine Miete zu bezahlen. Aufgrund des Streiks wird sein Arbeitgeber mindestens 14 Arbeitstage von seinem Monatspensum abziehen – bei einem Monatslohn von 1.400 Euro. David hofft, dass sich diese Einbußen lohnen und die Regierung den Forderungen der Arbeiterschaft endlich nachgibt.

Wie seine Kollegen muss auch David unter jeglichen Bedingungen arbeiten. Wie viele andere Arbeiter erinnert er sich an den Morgen nach den Terroranschlägen in Paris im November 2015 oder an die ersten Corona-Lockdowns. „Damals, zu Pandemiebeginn, versprach die Regierung, ihre Politik mit Blick auf die essenziellen Arbeitskräfte zu ändern,“ erinnert sich Christophe Farinet, ebenfalls Müllmann sowie stellvertretender Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes CGT. 

Im März 2020 habe die Regierung versprochen, die Sozial- und Arbeitsbedingungen zu verbessern, „nicht nur für uns, sondern auch für die Kassiererinnen und Kassierer, das Sicherheitspersonal und die Reinigungskräfte, die es sich heute eigentlich gar nicht leisten können, zu streiken“. Was von diesen Versprechen übrig geblieben ist, sehe man drei Jahre später in Form der Macron’schen Rentenreform.

Anne-Sophie Lechevallier ist Journalistin im Innenpolitik-Ressort der französischen Tageszeitung Libération.

Mein Renten-Plan: Arbeit bis zum Tod

Als Este werde ich 68 Jahre und drei Monate alt sein, wenn ich im Dezember 2056 in Rente gehen kann. Das hat mir jedenfalls der sogenannte Pensionsrechner auf der Website der estnischen Sozialbehörde ausgespuckt. Die App muss nur mein Geburtsjahr (1988) kennen, um diese Berechnung durchzuführen. 68 wird dabei als mein Standard-Renteneintrittsalter im estnischen System betrachtet. Dieses ist allerdings gekoppelt an die allgemeine durchschnittliche Lebenserwartung: Wenn diese steigen sollte, wird auch mein Renteneintrittsalter entsprechend angepasst.

Ich könnte mich dafür entscheiden, bis zu fünf Jahre früher – also mit 63 – in Rente zu gehen. In diesem Fall würde mir eine mickrige Pension bleiben, die in etwa einem Viertel meines derzeitigen Gehalts entspricht. Selbst wenn ich mit 68 Jahren in den Ruhestand ginge, würde meine staatliche Rente (unter der Annahme, dass sie mit der Inflation Schritt hält) nicht einmal für meine derzeitigen Miet- und Nebenkosten ausreichen.

Der ehemalige Sozialminister Margus Tsahkna, der die aktuellen Verhandlungen zur Bildung der neuen estnischen Regierungskoalition unterstützt, hat aber bereits eingeräumt, dass der Staat in Zukunft nicht mehr in der Lage sein wird, die Renten in gleicher Höhe zu zahlen. „Das ist eine brutale Nachricht,“ fügte er hinzu. Es gebe keine Alternative zu einer Rentenreform.

Ich habe ein wenig mit dem Pensionsrechner herumgespielt, um herauszufinden, wie lange ich meinen Ruhestand hinauszögern müsste, um einzig und allein von der staatlichen Rente zu leben. Es war nicht möglich, die Rente über das Eintrittsalter von 78 Jahren hinaus zu berechnen. Wenn ich mit 78 Jahren in Pension gehen würde, bekäme ich rund zwei Drittel meines derzeitigen Gehalts und hätte somit keinerlei finanziellen Spielraum.

Dieses Alter von 78 Jahren liegt 23 Jahre über der Anzahl der „gesunden Jahre“, die ein durchschnittlicher estnischer Mann laut staatlicher Statistik hat. Tsahkna liegt mit seiner Einschätzung, dass in einer solchen Rentenkrise nicht mehr ausreichend gezahlt wird, richtig. Bisher gibt es hierzulande keine Lösung, außer dem Motto: „Jeder für sich selbst!“

Herman Kelomees ist Journalist bei Delfi in Tallinn und berichtet hauptsächlich im Ressort Politik.

Strengt euch halt ein bisschen an

„Arbeit ist kein Ponyhof,“ teilte Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit, kürzlich in Richtung der jüngeren Generationen in Deutschland mit. Ihre Aussage ging in den sozialen Medien viral. Die sozialdemokratische Ex-Arbeitsministerin deutete an, die jüngeren Menschen solle sich schon einmal darauf einstellen, mehr und länger zu arbeiten.

Diese wollen das aber nicht: Sie wünschen sich vielmehr eine bessere Work-Life-Balance. In einer Umfrage im vergangenen Jahr gaben 57 Prozent der Menschen zwischen 16 und 29 Jahren an, dass ihnen ihr Privatleben wichtiger sei als ihre Karriere.

Mit dem Ausscheiden der Boomer-Generation aus dem Arbeitsmarkt werden in Deutschland 2035 rund sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen. Das ist auch eine Herausforderung für die Finanzierung der Renten. Der Staat wird wahrscheinlich große Teile der entstehenden Lücken füllen müssen – und dafür auch jemand die Steuern zahlen.

Teresa Roelcke ist Journalistin beim Tagesspiegel aus Berlin.

Von Häuslebauern und Renten-Fallen

Die Feststellung ist so unangenehm wie wahr: In Polen können zukünftig nur sehr wenige Menschen auf eine angemessene Rente bauen. Schon vor einem Jahrzehnt sagte Wirtschaftsminister Waldemar Pawlak unverblümt: „Ich glaube nicht allzu sehr an die staatliche Rente. Ich persönlich versuche, meine Zukunft durch Ersparnisse und eine gute Beziehung zu meinen Kindern zu sichern. Das ist sicherer als diese diversen staatlichen Scheinlösungen.“

Das Vertrauen, dass der Staat eine anständige Rente zahlen wird, war in Polen seit 1989 nie besonders ausgeprägt. Viele Menschen haben daher die Dinge selbst in die Hand genommen – genau so, wie es ihnen im neuen kapitalistischen System beigebracht wurde. Da sie wussten, dass sie keine ausreichende Rente bekommen würden, investierten sie vor allem auf dem Immobilienmarkt.

Seit der Wende ist die Kapitalanlage in Immobilien zu einem echten „Nationalsport“ der Polen geworden. Die Preise sind rasant gestiegen, vor allem in den größten Städten des Landes. Günstige Kredite machten es möglich, auch ohne viel Eigenkapital eine Wohnung zu kaufen. Viele Menschen betrachteten dies als wichtige Investition für den eigenen Lebensabend. Einige Käuferinnen und Käufer halten mehr als ein Dutzend Wohnungen – auf Pump.

Durch diese Entwicklung verschärfte sich jedoch ein anderes Problem: der Mangel an verfügbarem Wohnraum. Es ergab sich die absurde Situation, dass immer mehr Wohnungen gebaut wurden, aber aktuell bis zu zwei Millionen davon leer stehen. Ein großer Teil dieser Wohnungen sind reine Anlageobjekte, die die Menschen gekauft haben, um sie dann mit Gewinn zu veräußern.

Infolgedessen sind auch die Mietpreise gestiegen. Heute kann sich nur noch eine kleine Minderheit eine Hypothek leisten. Die Mehrheit der Polinnen und Polen wird sich daher wohl mit der Rente begnügen müssen, die der Staat ihnen in Zukunft anbieten kann.

Noch düsterer sieht es für diejenigen aus, die jetzt in den Arbeitsmarkt eintreten. Ab 2060 dürften sie als Rente dann gerade einmal 25 Prozent ihres letzten Arbeitsgehalts erhalten.

Michał Kokot arbeitet im Auslandsressort der Gazeta Wyborcza und befasst sich dort mit Politik und Gesellschaft Mitteleuropas.

„Meine Rente darf nicht noch weiter steigen“

„Großeltern, die ihren Kindern helfen, finanziell unabhängig zu werden oder die Schule ihrer Enkel bezahlen, sind doch der eindeutige Beweis dafür, dass das System nicht funktioniert. Meine Rente wird dieses Jahr um 8,5 Prozent steigen, aber Sie werden wahrscheinlich keine Gehaltserhöhung bekommen – und wenn doch, dann höchstens drei Prozent. Es ist ungerecht, dass wir immer bessere Renten bekommen. Stellen Sie sich mal vor: ich konnte einfach mein Haus kaufen, während mein Sohn 40 Prozent seines Gehalts für die Miete aufwenden muss.“

Der 72-jährige Mariano Guindal ist Rentner aus Barcelona. Er fühlt sich privilegiert, denn er erhält die spanische Maximalrente von mehr als 3.000 Euro pro Monat. Und diese wird stetig erhöht. Das empfindet er als ungerecht: Seiner Meinung nach sind Rentner eine „besonders geschützte Gesellschaftsgruppe“, die von den diversen Regierungen gehätschelt wurde und wird. Der Grund sei parteipolitischer Natur: In Spanien gibt es rund zehn Millionen Menschen in Rente. Das sind zehn Millionen potenzielle Wählerinnen und Wähler – bei einer Gesamtzahl von 36 Millionen Wahlberechtigten.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.

Danke, dass Sie die 25. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Ich hoffe, diese Ausgabe hat Ihnen gefallen.

Wenn Sie mehr über uns und unsere Einschätzungen zu den Rentensystemen in unterschiedlichen Ländern erfahren möchten, nehmen Sie doch an unserem European Focus Twitter Space am heutigen Donnerstag um 18:30 Uhr teil. Meine Kolleginnen und Kollegen aus Italien, Spanien, der Ukraine, Deutschland und Ungarn werden dort über eine simple, aber grundlegende Frage diskutieren: Wie lange wollen/sollen/müssen wir arbeiten?

Bis nächste Woche! 

Nelly Didelot

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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