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Jihia al-Sinwar, Anführer der Hamas im Gazastreifen

© AFP/Mohammed Abed

Die zweite Phase der Bodenoffensive: Jetzt beginnt Israels Jagd auf den Hamas-Chef

Im Norden des Gazastreifens steht die Hamas „kurz vor dem Zusammenbruch“, berichtet die israelische Armee. Nun rückt die Stadt Chan Junis im Süden in den Fokus – und mit ihr Jihia al-Sinwar.

Die zweite Phase der militärischen Bodenoffensive Israels im Gazastreifen hat begonnen. „Eine zweite Phase, die militärisch schwierig sein wird“, wie ein Regierungssprecher am Dienstag unumwunden zugab.

Schließlich hat sich die israelische Armee, nachdem sie die weitgehende Kontrolle über die letzten Hamas-Hochburgen im Norden des Gazastreifens gewonnen hat, nun als Ziel gesetzt, die militärische Hamas-Führung im Süden des Gazastreifens aufzuspüren und auszulöschen.

Im Norden des Gazastreifens steht die Hamas laut dem israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant „kurz vor dem Zusammenbruch“. Am Montag erreichte die Armee deshalb bereits die Stadt Chan Junis im Süden mit Panzern, Truppentransportern und Bulldozern.

Dort wird unter anderem der Hamas-Chef im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, im Tunnelsystem im Westen der Stadt vermutet. Unter dem Flüchtlingscamp, wo er aufgewachsen ist.

Palästinenser gehen vor stark beschädigten Gebäuden nach einem israelischen Angriff in Chan Junis.
Palästinenser gehen vor stark beschädigten Gebäuden nach einem israelischen Angriff in Chan Junis.

© dpa/Mohammed Talatene

Augenzeugen berichteten von heftigen Kämpfen in der Nähe von Chan Junis und Luftangriffen nahe Ägypten beim Grenzübergang Rafah. Die israelische Armee erklärte, sie ergreife „aggressive“ Maßnahmen gegen die „Hamas und andere terroristische Organisationen“ in Chan Junis. Zudem werde das Tunnelsystem, das den Norden mit dem Süden des Gazastreifen verbindet, sukzessive zerstört.

Die Hamas feuerte nach eigenen Angaben Raketen auf die südisraelische Stadt Beerscheba ab. Die Terrororganisation erklärte im Onlinedienst Telegram, ihre Kämpfer hätten in der Nähe von Chan Junis zwei Truppentransporter und einen Panzer angegriffen.

UN warnt vor „noch höllischerem Szenario“

Israel geht auch davon aus, dass sich in Chan Junis die vier schlagkräftigsten Bataillone der Kassam-Brigaden, dem militärischen Arm der Hamas, aufhalten. Die Bodenoffensive dort soll den Druck auf die Hamas-Führung erhöhen. Allerdings ist davon auszugehen, dass diese sich inmitten von Zivilisten versteckt, die sie seit Kriegsbeginn als menschliche Schutzschilde benutzen.

Deshalb hat die israelische Armee die Menschen in Chan Junis aufgefordert, bestimmte Stadtteile zu verlassen. Es ist unklar, ob die Hamas das zulassen wird. Im Norden des Gazastreifens hatte die Hamas das zweitweise zu verhindern versucht. Eine Vertreterin der Vereinten Nationen warnte vor einem „noch höllischeren Szenario“ im Gazastreifen.

Palästinenser fliehen aus Chan Junis.
Palästinenser fliehen aus Chan Junis.

© Reuters/Ahmed Zakot

Nach Angaben zweier hochrangiger israelischer Offiziere wurden beim Militäreinsatz gegen die Hamas bislang doppelt so viele Zivilisten wie Hamas-Kämpfer getötet. Auf Informationen angesprochen, denen zufolge 5000 Hamas-Kämpfer getötet worden seien, erklärte ein israelischer Presseoffizier, diese Zahl sei „mehr oder weniger exakt“. Rund die Hälfte der Kommandeure soll mittlerweile tot sein, wie die israelische Zeitung „Haaretz“ berichtet.

Dass für jeden getöteten Hamas-Kämpfer zwei palästinensische Zivilisten sterben müssten, nennt Jonathan Conricus, ein Sprecher der israelischen Armee, ein „enorm positives“ Verhältnis. „Wenn man das Verhältnis mit allen anderen Kämpfen in Stadtgebieten zwischen Militär und Terrororganisationen vergleicht, in denen diese Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt, ist es vielleicht einzigartig auf der Welt“, sagte Conricus zu „CNN“.

Al-Sinwar ist das Gesicht des Hamas-Massakers

Die Tötung oder Festnahme al-Sinwars hätte große Symbolwirkung. Er ist das Gesicht des Massakers vom 7. Oktober. Zwar war auch der Kommandeur der Kassam-Brigaden, Mohammed Deif, maßgeblich an der Vorbereitung beteiligt, doch zeigte sich al-Sinwar nach dem Massaker erst öffentlich in Gaza-Stadt und später auch im Tunnelsystem bei den Geiseln, wie diese nach ihrer Freilassung berichteten.

„Mein Spaziergang wird eine Stunde dauern, jetzt könnt ihr mich jagen“, sagte al-Sinwar, als er sich während seines Auftritts im Oktober ablichten ließ. Richard Hecht, ein Sprecher der israelischen Armee, erklärte daraufhin: „Er ist ein wandelnder Toter, wir werden diesen Mann kriegen.“

Israel hofft, dass die Hamas, sollten al-Sinwar und sein innerer Zirkel ausgeschaltet werden, nicht mehr in der Lage sein werden, den Gaza-Krieg fortzuführen.

Al-Sinwar leitete mit 25 Jahren erstmals eine Hamas-Einheit – jene, die Palästinenser bestrafte, die mit den Israelis zusammenarbeiteten. Wegen der Tötung zweier israelischer Soldaten wurde er viermal zu lebenslanger Haft verurteilt. Insgesamt saß Sinwar 23 Jahre in Israel im Gefängnis. Dort lernte er Hebräisch und setzte sich als Anführer der Gefangenen durch.

Al-Sinwars Spitzname: „Schlächter von Chan Junis“

2011 kam Sinwar frei – als einer von 1000 palästinensischen Häftlingen, die gegen den israelischen Soldaten Gilad Schalit ausgetauscht wurden. Sechs Jahre später, im Jahr 2017, wählte ihn die Hamas zu ihrem Führer im Gazastreifen, nachdem sein Vorgänger Ismail Hanija Chef der Organisation wurde und ins Exil ging.

Al-Sinwars Spitzname ist „Schlächter von Chan Junis“, weil er Konkurrenten teils aus dem Weg räumte, indem er sie zwang, ein Grab auszuheben, wo er sie dann lebendig begrub und mit Zement überschüttete.

Während seiner Zeit im Gefängnis soll er nicht nur Hebräisch gelernt, sondern auch die israelische Gesellschaft und das militärische Vorgehen westlicher Armeen wie der israelischen studiert haben. Demnach begriff er, dass im Westen Angriffe auf zivile Ziele wie Schulen, Krankenhäuser oder Moscheen tabu sind – eigentlich. An solchen Orten befindet sich die Infrastruktur der Hamas heute.

Seit dem zwischenzeitlichen Abkommen zwischen der Hamas und Israel zum Austausch von Geiseln gegen palästinensische Gefangene ist Sinwars Popularität auch im von Israel besetzten Westjordanland enorm gestiegen. Abend für Abend wurden dort in den vergangenen Tagen nicht nur die freigelassenen Palästinenser bejubelt – sondern auch al-Sinwar als ihr Befreier gefeiert. (mit Agenturen)

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