zum Hauptinhalt
Türkische Aktivisten und Oppositionelle versammeln sich am 2. Juli in Sivas mit Bildern der Opfer, die vor 30 Jahren im Madimak Otel getötet wurden.

© afp/Husnu Umit Avci

Die Türkei und das Massaker in Sivas: Wie die Aleviten seit 30 Jahren um ihre Rechte kämpfen

Der Mob zündet ein Hotel an, 35 Menschen sterben. Der Anschlag in Sivas ist ein Symbol für die Diskriminierung der Aleviten. Was tut Erdoğan, um die religiöse Minderheit zu schützen?

Das Gebäude brennt lichterloh. Gellende Hilfeschreie der Menschen darin mischen sich mit dem Jubel der Menschen, die sich davor versammelt haben. Etwa 3000 Jugendliche, Männer und Senioren begleiten das Sterben mit militaristischen Siegesrufen. „Das ist das Höllenfeuer! Das Feuer, in dem die Ungläubigen brennen werden.“

Es sind Szenen aus der türkischen Stadt Sivas, die auch nach 30 Jahren pünktlich zum Jahrestag in den türkischsprachigen sozialen Medien viral gehen. Der Name Sivas ist zu einem Symbol des Hasses gegen die religiöse Minderheit der Aleviten in der Türkei geworden.

Alle 33 Opfer des Massakers waren Aleviten, sie waren Musiker:innen, Schriftsteller:innen, Journalist:innen. Viele von ihnen waren zwischen 18 und 30 Jahre alt. Der Anschlag wird von der alevitischen Gemeinde als „katliam“, als Massaker, bezeichnet.

Mob verübte den Anschlag unter Siegesrufen

Einige aus dem Mob filmten damals das Geschehen und hielten das Hassverbrechen fest, das bis heute die exponierte Situation der Aleviten in der Türkei verdeutlicht. Das Video zeigt, wie einer der versammelten Männer versucht, mit Brandsätzen in das Gebäude einzudringen.

Er klettert begleitet von Rufen der aufgebrachten Menge – „Brenn! Brenn! Brenn“ – an der Fassade hoch. Die Menge schaut gebannt zu und feuert an: „Los, brenn sie nieder, mein Junge!“ Dem Mann gelingt es, durch ein zuvor mit Steinen eingeworfenes Fenster in das Gebäude einzudringen. Die Menge tobt. Wenig später steht das Madımak-Hotel in Flammen.

Opfer wollten an Kulturfestival teilnehmen

In dem Hotel, vor dem sich am 2. Juli 1993 ein islamistischer Mob versammelte, waren junge Leute untergebracht, die zum traditionellen Kulturfestival Pir Sultan Abdal nach Sivas gekommen waren. Das Kulturfestival findet jedes Jahr zu Ehren des gleichnamigen alevitischen Volksdichters in seiner Geburtsstadt in Zentralanatolien statt.

3000
Jugendliche, Männer und Senioren versammelten sich zu einem Mob vor dem Hotel.

Ehrengast des Festivals 1993 war Aziz Nesin, ein bekannter linker Schriftsteller aus der Türkei. Nesin hatte zuvor das umstrittene Buch „Die satanischen Verse“ von Salman Rushdie den türkischen Leser:innen zugänglich gemacht und für die Publikation des Buches gekämpft.

Rushdies Buch hatte seinerzeit wegen Blasphemievorwürfen in der muslimischen Welt für Empörung gesorgt. Kurz vor Nesins Ankunft in Sivas heizten die lokalen Zeitungen die Stimmung entsprechend auf mit agitatorischen Schlagzeilen wie „Aziz Nesin hat wieder Hass gesät“.

Um Eskalationen zu vermeiden, brachten die Leibwächter von Nesin auch ihn in das Madımak-Hotel. Er überlebte im Flammenmeer leicht verletzt.

Der Name der Stadt Sivas ist seit 30 Jahren ein Politikum. Er steht für ein grausames Verbrechen an alevitischen jungen Menschen, aber auch für den damals wie heute zögerlichen Umgang der türkischen Politik mit der anhaltenden Diskriminierung der alevitischen Religionsgemeinschaft.

Sivas markiert eine politische Kontinuität, die nicht nur den Alevit:innen, sondern auch anderen religiösen und ethnischen Minderheiten in der Türkei schadet.

Bis heute erfolgte keine Aufarbeitung

Kamal Sido, Nahostreferent der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker, sieht die Ursache des Anschlags nicht nur in einem islamistischen Gedankengut, der in der Türkei weit verbreitet ist. „Auch der türkische Nationalismus spielt eine zentrale Rolle bei der Hetze gegen die Aleviten. Er vertritt die These, dass ein guter Türke ein sunnitischer Türke sein muss“.

Auch der türkische Nationalismus spielt eine zentrale Rolle bei der Hetze gegen die Aleviten.

Kamal Sido, Nahostreferent der Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker

Das Massaker von Sivas sei auch nach 30 Jahren weder historisch noch politisch aufgearbeitet, sagt Sido. Es gebe weder juristische Konsequenzen für die Täter noch eine angemessene Erinnerungskultur. „Erdoğan könnte zum Beispiel Sivas besuchen und am Ort des Verbrechens gemeinsam mit den Aleviten der Opfer gedenken. Aber dazu muss Erdoğan aufhören, die Religion als Instrument zu missbrauchen.“

Bis heute hält sich der Vorwurf: Die Polizei half den Menschen damals nicht, weil sie Alevit:innen waren. Auch Politiker schürten ein Klima des Hasses. So sprach Temel Karamollaoğlu, der bei den letzten Parlamentswahlen in der Türkei als Vorsitzender der Saadet-Partei Teil des Oppositionsbündnisses war, damals dem gewaltbereiten Mob Mut zu: „Meine muslimischen Brüder und Schwestern, möge euer Kampf gesegnet sein“.

Neben Karamollaoğlu saß auch der scheidende Oppositionsführer und Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu mit am Tisch des Bündnisses, das Erdoğan erfolglos ablösen wollte. Während des Wahlkampfes sorgte sein millionenfach angeklicktes Video „Ich bin ein Alevit“ für großes Aufsehen in der Türkei.

„Die türkische Republik, die den Aleviten Gleichheit versprochen hatte, hat die Aleviten nie als gleichberechtigte Bürger behandelt.

Nil Mutluer, Soziologin an der Universität Leipzig

„Es ist an der Zeit, ein sehr heikles Thema anzusprechen. Davon bin ich überzeugt“ – mit diesen Worten leitete Kılıçdaroğlu während des Wahlkampfes im April weitere drei Minuten ein, in denen er sich zum Alevitentum bekannte. Eine bis dato nicht vorhandene politische Repräsentation.

Auch der Kemalismus trägt Schuld

„Das Video ist sehr, sehr wertvoll“, sagt die türkische Soziologin Nil Mutluer. Es komme aber zu spät. Und sie kritisiert die historische Rolle der CHP, Kılıçdaroğlus Partei, in der alevitischen Frage.

Für Mutluer wäre es unvollständig, nur den politischen Islam als Ursache für die Diskriminierung der Alevit:innen zu sehen. Diese sei kein neues Phänomen, sie existiere seit der Gründung der Republik Türkei 1923.

Der politische Islam spiele eine Rolle, aber auch der Kemalismus und seine auf eine sunnitisch-türkische Bevölkerung fixierte Assimilationspolitik, unter der Minderheiten wie die Kurden ebenfalls Ungerechtigkeiten ausgesetzt waren.

Aleviten, sagt Mutluer, wurden auch im Osmanischen Reich diskriminiert, aber das Osmanische Reich sei auch keine demokratische Republik gewesen. „Die türkische Republik, die den Aleviten Gleichheit versprochen hatte und bei ihrer Gründung ihre Unterstützung erhielt, hat die Aleviten nie als gleichberechtigte Bürger behandelt.“

Es sei auch gefährlich, alle Menschen mit sunnitisch-muslimischer Identität mit dieser Haltung in Verbindung zu bringen. Der Hass auf Aleviten könne nicht auf eine politische Bewegung beschränkt werden. Zudem seien Aleviten wie auch Sunniten keine homogene Gruppe. „Unter den Aleviten gibt es Säkulare, Konservative, Liberale. Wie in allen Religionen.“

Mittel- und langfristig könne die Erinnerungskultur in der Türkei nur durch die Auseinandersetzung mit der türkischen Geschichte demokratisch werden, sagt Mutluer. Dazu sei eine offene Konfrontation mit allen Ereignissen und Faktoren, die für die Diskriminierung der Aleviten verantwortlich sind, notwendig. Doch davon sei die Türkei noch weit entfernt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false