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Ukrainische Soldaten im Einsatz in Bachmut.

© Anadolu Agency via Getty Images/Anadolu Agency

Bachmut-Schlacht vor dem Wendepunkt?: Russische Militärblogger sind alarmiert, Prigoschin stänkert, der Kreml druckst

Die Hinweise auf einen Durchbruch der Ukraine an den Flanken von Bachmut verdichten sich. Hinter den Angriffen könnte ein ambitionierter Plan stecken.

Russische Kriegsblogger und der kremlnahe Ideologe Alexander Dugin schlagen Alarm, das ukrainische Militär spricht von intensivierten Gefechten und selbst Teile der Wagner-Gruppe berichten von Gebietsverlusten: Nach mehr als neun Monaten steht die Schlacht um Bachmut offenbar an einem Wendepunkt.

In den vergangenen Tagen und vor allem am Donnerstag und Freitag überschlugen sich rund um die heftig umkämpfte Stadt die Ereignisse. Die Meldungen über erfolgreiche ukrainische Gegenstöße an den Flanken der Stadt nehmen zu.

Ein Soldat, der aktuell in Bachmut kämpft, bestätigt dem Tagesspiegel: Das Ziel der ukrainischen Truppen sei es, die russischen Truppen, die inzwischen fast die komplette Stadt kontrollieren, einzukesseln (mehr dazu im Interview hier). Damit bestätigt er einen Verdacht, den der Chef der Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, und Experten am Freitag geäußert hatten.

„Die Indizien mehren sich, dass wir uns in der Anfangsstufe der Offensive befinden“, schreibt etwa der Verteidigungsexperte Franz-Stefan Gady vom Londoner Institute for International Strategic Studies auf Twitter mit Blick auf die jüngsten Ereignisse. „Auf jeden Fall gibt es ‚Bewegung‘.“ Und das nach Monaten des Beinahe-Stillstands an der Front.

„Wir haben den Bericht von General Syrskyj gehört, dessen Einheiten mit übermächtigen Anstrengungen den Feind aufgehalten und sogar an einigen Abschnitten zurückgeworfen haben“, teilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach einer Generalstabssitzung am Freitag mit.

Nur kurze Zeit später kam eine inoffizielle Bestätigung – und zwar aus Moskau: Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, dass sich seine Einheiten am nördlichen Stadtrand auf „günstigere Positionen am Berchiwka-Stausee“ umpositionieren. Weniger blumig ausgedrückt: Im Norden Bachmuts mussten sich russische Truppenteile zurückziehen.

Bachmut – Position der Streitkräfte am 11. Mai 2023
Bachmut – Position der Streitkräfte am 11. Mai 2023

© ISW, AFP, Tagesspiegel

Die Meldung rief Prigoschin auf den Plan, der sich in den vergangenen Tagen mit zahlreichen Videos, Social-Media-Posts und einem Brief an die Militärs in Moskau gewandt hatte. Die russischen Verteidigungslinien „brechen auseinander“, wetterte er am Freitag in einer Videobotschaft, der russische Generalstab würde die Lage „verharmlosen“.

Das Bild vom 3. Mai zeigt eine Rauchsäule über Bachmut.
Das Bild vom 3. Mai zeigt eine Rauchsäule über Bachmut.

© AFP/Dimitar Dilkoff

Prigoschin warf den russischen Soldaten vor, geflohen zu sein. Auf Wagner-nahen Telegram-Kanälen ist die Rede von einem erheblichen Gebietsverlust und dem „Durchbruch der ukrainischen Streitkräfte“ nahe der Ortschaft Bohdaniwka.

Am Freitagmorgen hatte die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin Hanna Malijar auf Telegram erklärt, die ukrainische Armee habe seit Wochenbeginn bei den Kämpfen „keine einzige Stellung aufgegeben“ und einen Gebietsgewinn von zwei Kilometern erzielen können. Die russische Seite hingegen habe „erhebliche Verluste“ erlitten.

Die Stadt Bachmut ist nahezu vollständig zerstört. Die ukrainischen Truppen halten nur noch wenige Straßenzüge in der Stadt.
Die Stadt Bachmut ist nahezu vollständig zerstört. Die ukrainischen Truppen halten nur noch wenige Straßenzüge in der Stadt.

© REUTERS/ADAM TACTIC GROUP

Die Kämpfe rund um die Stadt in der ostukrainischen Oblast Donezk stehen besonders im Fokus von Militärbeobachtern, es handelt sich um die bislang am längsten andauernde Schlacht im seit Februar 2022 dauernden russischen Angriffskrieg.

Beide Armeen stehen sich dabei perlenkettenartig gegenüber, wobei jede Perle eine Einheit darstellt. Durchbrüche und nachhaltige Vorstöße gelingen daher nur selten – wie nun offenbar den Ukrainern im Südwesten und Norden von Bachmut. Dass sich die Gefechtslage rund um Bachmut, das im Russischen als Artjomowsk bezeichnet wird, zuspitzt, gilt mittlerweile als gesichert.

Schon am Donnerstagabend hatte der ukrainische Armeesprecher Serhij Tscherewatyj der Agentur Unian zufolge geschildert, dass russische Einheiten verzweifelt versuchen würden, die vorrückenden Ukrainer aufzuhalten. Wie später Malijar sprach er von heftigen Verlusten auf der Gegnerseite.

Ein ukrainischer Soldat auf seinem Panzer nahe Bachmut.
Ein ukrainischer Soldat auf seinem Panzer nahe Bachmut.

© AFP/Dimitar Dilkoff

Wagner-Chef frotzelt – und düpiert den Verteidigungsminister

Die jüngsten Berichte von russischer (zumindest nichtstaatlicher) Seite lesen sich ähnlich. Im Verlauf von Donnerstag zu Freitagmorgen häuften sich mit Blick auf die ukrainischen Gegenstöße die warnenden Meldungen über eine russische Überforderung an den Frontabschnitten um die Stadt.

Zu den obersten Mahnern zählt einer, der selbst an vorderster Front agiert: Wagner-Chef Prigoschin. Nachdem er bereits am Mittwoch vor einer Umkehr des „Fleischwolfes“ in russische Richtung warnte und von einer möglichen Einkesselung der russischen Truppen sprach, wartete Prigoschin in der Nacht zu Freitag wieder mit einer Erfolgsmeldung auf.

Wagner-Chef Prigoschin kritisiert regelmäßig mangelnden Waffennachschub aus Moskau (Bild vom 8. Apil).
Wagner-Chef Prigoschin kritisiert regelmäßig mangelnden Waffennachschub aus Moskau (Bild vom 8. Apil).

© REUTERS/YULIA MOROZOVA

In einer Audiobotschaft erklärte der exzentrische Söldnerchef, dass sich seine Wagner-Einheiten nur 625 Meter vom westlichen Zugang zu Bachmut befinden würden. Drohnenbilder in sozialen Netzwerken scheinen dies zu bestätigen, obgleich auch hier noch keine Verifizierung möglich ist.

Die aktuelle Lage in Bachmut lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Während die Wagnergruppe noch innerhalb des Stadtzentrums Fortschritte macht, versuchen die Ukraine die gesamte Stadt zu umzingeln. Ob das zeitnah gelingen kann, daran äußerte der ukrainische Soldat in Bachmut, mit dem der Tagesspiegel sprechen konnte, allerdings Zweifel. Allein der Versuch scheint militärisch gewagt, beschränken sich doch die Fortschritte in dieser Gegend auf wenige hundert Meter pro Tag.

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Kurios: Nur wenige Stunden nach seiner Erfolgsmeldung wagte Prigoschin einen neuerlichen Affront gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Mit einem Unterton, der irgendwo zwischen Ernsthaftigkeit und Zynismus zu verorten ist, lud der Kriegsunternehmer seinen sibirischen Intimfeind in einem offenen Brief zu einem Frontbesuch ein.

„In Anbetracht der schwierigen operativen Lage und Ihrer langjährigen Kampferfahrung bitte ich Sie, nach Bachmut zu kommen, das unter Kontrolle russischer Militäreinheiten ist, und selbständig die Lage einzuschätzen“, schrieb der Söldner-Kommandeur.

Aus der Stadt Tschassiw Jar werden die ukrainischen Einheiten an die Front in Bachmut gebracht.
Aus der Stadt Tschassiw Jar werden die ukrainischen Einheiten an die Front in Bachmut gebracht.

© AFP/Dimitar Dilkoff

Nach mehreren verbalen Fern-Scharmützeln ist dies ein weiterer Beleg für die belastete Beziehung zwischen Prigoschin und dem General Schoigu, der entgegen der im Brief erwähnten „langjährigen Kampferfahrung“ nie selbst an Gefechten beteiligt gewesen ist. Diese erneute Stichelei dürfte den Unmut in Moskau über Prigoschins Verhalten, von dem Insider seit geraumer Zeit berichten, verstärken.

Berichte über ukrainische Gebietsgewinne an den Flanken

Zugleich könnten Prigoschins offener Brief und seine zuletzt gehäuften Wortmeldungen darauf hindeuten, dass sich das Kriegsgeschehen tatsächlich zuungunsten der Russen entwickelt. Bereits vor einigen Tagen hatte der Wagner-Chef vom Rückzug russischer Soldaten an einigen Frontabschnitten berichtet und die Lage als „kritisch“ bezeichnet.

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Exemplarisch für die Warnungen auf russischer Seite stehen auch die jüngsten Einschätzungen bekannter Blogger und Kriegsreporter. So griff etwa der Kriegskorrespondent Poddubny die Warnung vor einer Einkesselung am Donnerstagabend per Telegram auf.

Auch der kremlnahe Ideologe Alexander Dugin reihte sich in die Riege der Warnenden ein. Zur ukrainischen Gegenoffensive hätte es gar nicht erst kommen dürfen, schrieb der Rechtsextremist am Donnerstagabend auf Telegram.

Daher forderte er neben einer allgemeinen Mobilisierung unter anderem den Einsatz taktischer Atomwaffen. Im August vergangenen Jahres war seine 29-jährige Tochter Darja Dugina durch eine Bombenexplosion in Moskau getötet worden. Russische Nationalisten wähnen die Ukraine hinter dem Anschlag.

Etwas später berichtete ein prorussischer Militärblogger von Gebietsgewinnen der ukrainischen Einheiten nordwestlich von Bachmut. Demnach hätten diese bei Bohdaniwka „ein 650 Meter tiefes Loch in die russischen Verteidigungsanlagen geschlagen“.

Kurz darauf schrieb ein weiterer Militärblogger, dass ukrainische Truppen an den Flanken von Klischtschijiwka und Bohdaniwka vorgerückt seien und „mehrere Hochburgen“ zurückerobert hätten.

Was bedeutet das Moskauer Dementi wirklich?

Von derlei Meldungen will die russische Führung indes nichts wissen und widerspricht vehement. „Die Erklärungen, die vereinzelte Telegram-Kanäle über ‚Durchbrüche der Verteidigungslinien‘ an mehreren Stellen verbreiten, entsprechen nicht der Wirklichkeit“, schrieb das Verteidigungsministerium in der Nacht zu Freitag auf Telegram. Im Gegenteil: An der Front seien mehrere ukrainische Gegenstöße zurückgeschlagen worden, hieß es.

„Die Gesamtlage im Gebiet der Spezialoperation ist unter Kontrolle“, betonte die Militärführung in Moskau, ohne jedoch explizit auf Frontgeschehnisse rund um Bachmut einzugehen. Hierzu wurde lediglich von einer „Fortsetzung der Befreiung des westlichen Teils von Artjomowsk mit Unterstützung der Luftwaffe und Artillerie“ gesprochen.

Noch stehen Schätzungen zufolge 95 Prozent der Stadt Bachmut unter russischer Kontrolle. Beobachter werten den öffentlich ausgetragenen Disput zwischen Prigoschin und der russischen Militärführung sowie die schmallippigen Dementis aus Moskau als Indizien für eine ernste Krise im russischen Militär. Unabhängig überprüfbar sind allerdings weder die Angaben von ukrainischer noch von russischer Seite.

Ukraine setzt offenbar auf „Shaping Operations“

Gründe für die jüngsten Erfolgsmeldungen auf ukrainischer Seite könnten sogenannte Shaping Operations sein: Einem ranghohen US-Militär zufolge habe die Ukraine mit jenen „Gestaltungsoperationen“ begonnen, berichtet der US-Sender CNN.

Ein verwundeter Soldat wird in der Nähe von Bachmut versorgt.
Ein verwundeter Soldat wird in der Nähe von Bachmut versorgt.

© AFP/Dimitar Dilkoff

Bei dieser militärischen Taktik werden Ziele strategisch attackiert, um eine größere Militäroperation mit schnellen Erfolgen starten zu können. Sprich: Die aktuellen Kämpfe um Bachmut sind wohl die Vorbereitung für die große Gegenoffensive Kiews.

Der ukrainische Präsident Selenskyj hält sich derweil bedeckt. Am Freitag teilte er nach einer Generalstabssitzung lediglich mit, dass dort der Stand bei der Ausrüstung mit Technik und Munition von neu gebildeten Brigaden besprochen worden sei.

Tags zuvor hatte er der britischen BBC erklärt, dass die Zeit für eine Gegenoffensive noch nicht gekommen sei. „Mit (dem, was wir haben) können wir weitermachen und erfolgreich sein. Aber wir würden viele Leute verlieren“, sagte er. Dies sei jedoch „inakzeptabel“.

Auch wenn Bachmut fast vollständig zerstört ist, hat die Eroberung der Stadt mit einst rund 74.000 Einwohnern hohe symbolische Bedeutung. Mittlerweile steht sie im Fokus der Kämpfe in der Ostukraine, auch wenn sich beide Seiten auch an anderen Fronten erbitterte und verlustreiche Gefechte liefern.

Es gilt als nahezu sicher, dass der Schlacht um Bachmut eine Schlüsselrolle bei der seit langem erwarteten Gegenoffensive der ukrainischen Truppen zukommt – und somit auch im weiteren Verlauf des russisch-ukrainischen Kriegs. (mit Agenturen)

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