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Die Präsidenten Polens, Israels und Deutschlands, Andrzej Duda, Jitzchak Herzog und Frank-Walter Steinmeier, gedenken in Warschau des Ghetto-Aufstands 1943.

© AFP/JANEK SKARZYNSKI

80. Jahrestag Warschauer Ghetto-Aufstand: Was heißt hier „Nie wieder!“?

Nie wieder Opfer oder nie wieder Täter: Juden und Deutsche formulieren die Lehren aus dem Holocaust mit denselben Worten, meinen aber ganz Verschiedenes.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Grundsätze sind gut. Entscheidend jedoch ist, welche Handlungen aus ihnen folgen. Der 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto ist ein bitterer Test für die Kluft zwischen Bekenntnis und Tun.

„Nie wieder!“, beschwören die Staatsoberhäupter Israels, Polens und Deutschlands als Lehre aus dem Holocaust beim Gedenken an die Frauen und Männer, die sich nicht wie Schafe zur Schlachtbank deportieren ließen. Trotz des Mangels an Waffen und Munition leisteten sie vier Wochen Widerstand.

„Nie wieder!“, fordert das Europäische Parlament. In Warschau wie in Straßburg klingen die zwei Worte wie heilige Eide.

Für die Opfer ist der Aufstand ein Vorbild

Was aber bedeuten sie in der Praxis? Die Nachfahren der Opfer und der Täter bekennen sich zum gleichen Grundsatz, meinen aber ganz Verschiedenes.

Für Juden ist die Lehre aus dem Holocaust: nie wieder wehrlos sein! Der Ghetto-Aufstand ist Vorbild, Symbol und Fanal. Andere Opfer der Nazis ziehen die gleichen Schlüsse. Polen, Balten, Ukrainer möchten wehrhaft sein.

Für Nachkriegsdeutsche hieß „Nie wieder!“ lange: nie wieder solche Schuld auf sich laden, nie wieder Aggressor sein. Manche meinten oder meinen damit auch heute trotz Ukrainekrieg Pazifismus bis hin zur prinzipiellen Ablehnung alles Militärischen.

Was ist die Lehre: Aufrüsten oder Abrüsten?

Zugespitzt: Die Nachfahren der Opfer tendieren zum Aufrüsten, die Nachfahren der Täter immer noch zu oft zum Abrüsten. Die gegensätzlichen Interpretationen sind der Resonanzboden innenpolitischer Auseinandersetzungen und außenpolitischer Meinungsverschiedenheiten bis in die Gegenwart.

Unterschätzen Deutsche die Bedeutung einer starken Armee für die Abschreckung? Sind Soldaten Mörder oder Verteidiger des Friedens?

Hat das durch den Weltkrieg geläuterte Deutschland Wladimir Putin ungewollt zum Angriff auf die Ukraine ermuntert, weil es ihm mit Vertrauensseligkeit begegnete und einem naiven Glauben an die friedensstiftende Wirkung von Handel, auch mit Gas?

Und hat Israels Verständnis von „Nie wieder!“ dazu beigetragen, dass die einzige Demokratie im Nahen Osten fragwürdig mit den arabischen Nachbarn umgeht und selbst zur Besatzungsmacht wurde?

Diese offene Debatte, was aus dem „Nie wieder!“ folgt und wo es zu neuem Unrecht führen kann, hat am Gedenktag gefehlt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beließ es in seiner Rede bei allgemeingültigen Grundsätzen: nie wieder Angriffskrieg! Demokratien müssen wehrhaft sein.

Deutschland wird diesen Ansprüchen nicht gerecht. Polizei und Justiz gehen nicht entschieden genug gegen Judenhass vor. Menschen, die offen Kipa oder Davidstern tragen, müssen Angriffe fürchten.

Hat Deutschland alles getan, was in seiner Macht stand, um den „barbarischen Angriffskrieg“, den es „nie wieder geben darf“, zu verhindern? Tut es heute alles, was es kann, damit der Aggressor verliert und das Opfer sich behauptet?

Der polnische Lyriker Stanislaw Jerzy Lec hat diese Diskrepanz zwischen Grundsätzen und Handeln in den Aphorismus gekleidet: „,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!’ Aber wie kommen wir zu den Tätigkeitswörtern?“

Diese Frage bleibt auch für das Bekenntnis „Nie wieder!“.

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