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Auf dem Papier die stärkste Militärallianz der Erde. 

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75 und noch nicht erwachsen: Europa muss die Nato führen – und kann es auch

Warum trägt Amerika weiter die Hauptlast der Verteidigung? Zumindest in Europa sollten die Europäer selbst für ihre Sicherheit sorgen. Die Geschäftsgrundlage im Bündnis hat sich gedreht.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Mit 75 sind fast alle längst in Rente. Die Nato nicht. Die wird an ihrem 75. Geburtstag gebraucht, in erster Linie von den Europäern. Die können ihre Sicherheit noch immer nicht aus eigener Kraft garantieren – all ihrem Reichtum und heiligen Schwüren zum Trotz.

Europa verlässt sich weiter auf das Beistandsversprechen der USA. Dabei hat sich die Geschäftsgrundlage der Allianz seit ihrer Gründung im April 1949 grundlegend verändert.

Deutschland ist davon ganz besonders betroffen. Nach dem barbarischen Weltkrieg war es ein Paria. Heute müsste es als bevölkerungsreichste Demokratie und stärkste Wirtschaftsmacht Europas der Grundstein sein, auf den sich der europäische Pfeiler der Nato stützt. Doch dieser Verantwortung entzieht sich Deutschland, teils aus bequemer Gewohnheit, teils wegen seiner Vergangenheit.

Der Zweck der Nato: to keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down.

Hastings Ismay, erster Nato-Generalsekretär.

Die USA tragen den Großteil der Verteidigungsausgaben im Bündnis. Anfangs ging es gar nicht anders. Aber warum sind es heute noch rund 70 Prozent? Die 30 Verbündeten in Europa haben zusammen eine ähnlich große Wirtschaftskraft.

1949 war Europa zerstört, sah sich aber nach dem Sieg über die Nazis der nächsten totalitären Gefahr ausgesetzt: durch die Sowjetunion. Die Europäer hatten damals weder die militärischen noch die ökonomischen Ressourcen, um sich zu verteidigen.

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US-Soldaten und Marshall-Plan

US-Soldaten schützten die Länder westlich des Eisernen Vorhangs vor der Roten Armee. Der Marshall-Plan beschleunigte ihren wirtschaftlichen Aufstieg.

Der Zweck der Nato war nach einem geflügelten Wort: „to keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down”. 1955 nahm die Nato die Bundesrepublik als Verbündeten auf – auf Betreiben des CDU-Kanzlers Konrad Adenauer gegen den Widerstand der SPD. Aber dieses Grundverständnis hielt sich bis zum Fall der Mauer 1989.

Balkankriege: Schock ohne Folgen

In den 35 Jahren seither haben Deutschland und einige andere Verbündete in Europa einen Kurs eingeschlagen, der in erstaunliche Widersprüche zwischen Worten und Taten führt. Sie versprechen, ihre Verteidigungsausgaben zu steigern und ihre militärischen Fähigkeiten so auszubauen, dass sie Regionalkonflikte in Europa ohne Beistand der USA befrieden können. Aber sie handeln nicht danach.

Auf den Sturz der kommunistischen Diktaturen folgte kein ewiger Frieden. Im ehemaligen Jugoslawien tobten über Jahre mörderische Kriege. Sie wurden – wie die zwei Weltkriege zuvor – erst durch das Eingreifen der USA beendet.

Geld versprechen, aber nicht zahlen

Die Europäer schworen, dass sich ihr Versagen nicht wiederholen werde. 2002 verabredeten die Nato-Staaten, mindestens zwei Prozent ihres BIPs für Verteidigung auszugeben. 2014, im Jahr der Krim-Annexion und des Kriegsbeginns in der Ostukraine, wurde dies bekräftigt. Deutschland kam 2018 auf 1,25 Prozent und 2023 nach über einem Jahr Ukrainekrieg auf 1,57 Prozent.

Für eine eigenständige Sicherheitspolitik fehlt es Deutschland und Europa weder an Wirtschaftskraft noch an technischem Know-how. Die deutsche Rüstungsindustrie stellt Spitzenprodukte wie das Luftabwehrsystem Iris-T, den Kampfpanzer Leopard und den Marschflugkörper Taurus her. Das deutsche BIP ist anderthalbmal so groß wie das russische, das der EU siebenmal so groß.

Zählt man Staaten wie Großbritannien und Norwegen hinzu, die zur Nato gehören, nicht aber zur EU, ist die Dominanz noch größer. Warum hat Europa Angst vor Russland, warum zeigt Wladimir Putin keine Furcht vor Europa? Und wie würde der Krieg in der Ukraine enden, wenn Europa bereit wäre, seine Überlegenheit zu nutzen?

Das Problem liegt im Kopf und der Psyche der Europäer – nicht aller, aber doch vieler. Und ganz besonders der Deutschen. Im sonstigen Leben haben Begriffe wie Selbstverantwortung, Unabhängigkeit und Erwachsensein einen positiven Klang. Bei Sicherheit und Verteidigung reden Politiker so, als seien diese Ziele eine schwere Bürde. Und nicht Gründe für Stolz und Zufriedenheit.

75 Jahre nach Gründung der Nato kann und sollte Europa den europäischen Teil der Nato führen und für den Großteil seiner Verteidigungskosten aufkommen. Nicht weil US-Präsidenten das Europa abfordern, sondern aus Selbstwertgefühl.

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