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Die Inschrift unterhalb der Kuppel des Humboldt Forums ist eine Kombination aus Bibelzitaten. 

© dpa / Bernd von Jutrczenka

Humboldt Forum und Documenta: Kämpfe um die deutsche Erinnerungskultur

Die Erforschung des Kolonialismus und das Gedenken an den Holocaust - stehen sie einander im Weg oder gehören sie zusammen?

Die deutsche Erinnerungspolitik verzeichnet dieses Jahr zwei signifikante Ereignisse. Das lässt sich mit einem gewissen Abstand feststellen, der doch kein sicherer sein kann. In Kassel ging Ende September die Documenta fifteen mit ihrem Antisemitismusskandal zu Ende, der im Ausland nicht so sehr, dafür hierzulande umso mehr erregte. Eine Woche zuvor eröffnete in Berlin das Humboldt Forum weitere Sammlungsräume, es ist nun nach eigener Vorstellung komplett. In dieser Koinzidenz treffen die Erinnerung an den Holocaust und der Umgang mit der kolonialen Vergangenheit aufeinander.

Die Documenta galt immer als Trendsetter, als Provokation im positiven Sinn.  Doch der von den Verantwortlichen in Kassel miserabel begleitete und dadurch auch noch befeuerte Skandal diskreditiert die lange Erfolgsgeschichte der Weltkunstschau. Wo lag der Fehler, das Versäumnis oder Missverständnis?

Die Beauftragung eines Kollektivs, das jenseits der westlichen Sphäre zuhause ist und von der Zeitschrift „Monopol“ soeben als einflussreichste Gruppe in der Kunstwelt bezeichnet wurde, sollte ein Signal sein, ein neuer modus operandi im routinierten Kulturbetrieb, ein Aufbruch. Ruangrupa aus Indonesien brachte – man hätte es ahnen können – ihre eigenen moralisch-politischen Standards mit. Verteidigt man unsere nicht verhandelbaren Positionen - dazu gehört der Kampf gegen Antisemitismus - und zieht problematische Arbeiten aus dem Verkehr, wird das unter Umständen als Zensur verstanden.

Keine guten Aussichten: So gestaltet sich der berühmte Dialog der Kulturen der Welt schwierig, vielleicht sogar unmöglich. Die bittere Lektion lautet, dass die intendierte Weltoffenheit im schlimmsten Fall in anderen Hemisphären als Neokolonialismus wahrgenommen wird. Zumal die westliche Demokratie und ihre Werte an Überzeugungskraft verloren haben, auch innerhalb der demokratischen Gesellschaften, in den USA, in Ungarn und Italien.

Neil MacGregor, der frühere Direktor des British Museum in London und Mitglied der Gründungsintendanz des Humboldt Forums, hat die Deutschen oft dafür gelobt, dass sie sich anders als seine Landsleute im alten Empire ihrer Vergangenheit stellen. Nach den Erfahrungen mit der Documenta und dem Humboldt Forum im Berliner Schloss wird klar: Geschichte wird in den kommenden Jahren das große Thema sein.

 Besucher stehen im Hallenbad-Ost, in dem das indonesischen Künstlerkollektiv Taring Padi ausstellt. Ein Großbanner des Kollektivs wurde nach öffentlicher Kritik wegen antisemitischer Bildsprache entfernt. Gegen das kuratierende Kollektiv Ruangrupa hatte es seit Monaten Antisemitismus-Vorwürfe gegeben.
Besucher stehen im Hallenbad-Ost, in dem das indonesischen Künstlerkollektiv Taring Padi ausstellt. Ein Großbanner des Kollektivs wurde nach öffentlicher Kritik wegen antisemitischer Bildsprache entfernt. Gegen das kuratierende Kollektiv Ruangrupa hatte es seit Monaten Antisemitismus-Vorwürfe gegeben.

© Foto: dpa/Uwe Zucchi

Das wirft schmerzliche Fragen auf und schafft Streitpunkte, die eine Demokratie nicht nur aushalten muss, sondern die für eine demokratisch verfasste Öffentlichkeit von größter Bedeutung sind. In Diktaturen wird nicht debattiert.

Auch das Humboldt Forum hatte ein Antisemitismus-Problem. Einer der Großspender für die Wiederherstellung der Schlossfassade äußerte sich in seinen späten Lebensjahren öffentlich revanchistisch über Juden und die Demokratie in Deutschland: Die Ehrentafel für Ehrhardt Bödecker am Schloss wurde wieder entfernt.

Documenta und Humboldt Forum verbindet die komplexe Frage, wie sich die Institutionen zu dem größten Teil der Welt stellen, den man vor Kurzem noch als „Dritte Welt“ unten einsortierte und der jetzt als globaler Süden bezeichnet wird. Die von Ruangrupa kuratierte Schau sollte neue, andere Perspektiven eröffnen. Auch im Humboldt Forum arbeiten Wissenschaftler und Kuratoren aus den so genannten Herkunftsgebieten. Man braucht ihre Expertise, es geht um den Paradigmenwechsel.

500.000
Objekte besitzen die Ethnologischen Sammlungen Berlins.

Die Documenta fifteen hinterließ einen nachhaltig verstörenden Eindruck – und nicht allein wegen der antisemitischen Bildmotive, von denen einige lange unentdeckt blieben. Insgesamt wurde in Kassel die Kunst dem belehrenden Protest geopfert. Für den Kritiker der „New York Times“ war diese Documenta die schlechteste aller Zeiten. Möglicherweise wollten die internationalen Kollektive in Kassel genau das erreichen: mediale Aufmerksamkeit und Irritation. Die Strategie ähnelt dem Vorgehen der „Letzten Generation“, die im Namen des Klimaschutzes Kunstwerke attackiert. Diese Documenta ignorierte unter dem Motto „Make friends, not art“ weitgehend künstlerisch-ästhetische Kriterien.

Das Beispiel Ruangrupa und, noch nicht so lange her, der heftige Streit um Achille Mbembe sind ebenso lehrreich wie unvermeidlich. Dem Historiker wurde angelastet, er relativiere den Holocaust, seine Kritik an Israel sei antisemitisch und er stehe der BDS-Kampagne nah. Mbembe hat das alles heftig bestritten.

Der Vorwurf kommt ja schnell und zuletzt immer häufiger. Nach dem Rechtsruck in Israel und Netanjahus Annäherung an ultraradikale Kräfte dürfte sich das Problem noch verschärfen: Wo hört berechtigte Kritik an einer Regierung auf, die von der Hälfte der eigenen Bevölkerung abgelehnt wird, wo beginnt Antisemitismus?

Mbembe stammt aus Kamerun. Das Deutsche Reich unterhielt dort eine „Schutztruppe“ und betrachtete einen Teil des heutigen Landes als Kolonie. Neutralisieren sich die Beschäftigung mit der Geschichte des Antisemitismus und die Kolonialismusforschung?

Der Soziologe Natan Sznaider sieht die Gefahr: „Ein wichtiger Teil der deutschen Kulturpolitik versucht, Deutschland zu einem internationaleren, geradezu transnationalen Land zu machen“, sagte er vergangenen Sommer in einem „Spiegel“-Interview und verwies auf das Humboldt Forum. Sznaider erkennt in der etablierten deutschen Kulturszene eine „progressive Linke“, in deren Weltbild jüdische Interessen keinen Platz hätten.  In Kassel, argumentiert Sznaider, sollte „ein Universalismus zur Schau gestellt werden“, mit dem sich Deutschland als „Teil von etwas“ präsentieren wolle, „das über Deutschland hinausgeht. Was nicht mehr so provinziell ist und nicht bezogen ist auf die eigene Geschichte.“

Schadet der deutsche Universalismus?

Schadet dieser „Universalismus“ der Erinnerungskuktur, befördert er sogar antisemitische Tendenzen? In einem Aufsatz für die Bundeszentrale für politische Bildung haben Frank Bajohr und Rachel Sullivan eine Lösung vorgeschlagen: „Kritische Erinnerung an den Holocaust einerseits und an Verbrechen des Kolonialismus und Imperialismus andererseits schließen sich nicht nur nicht aus, zumal Erinnerung kein Nullsummenspiel ist.“  Im Gegenteil, so argumentieren die beiden Historiker, „kann die mühsam durchgesetzte Holocaust-Erinnerung vor allem in den Ländern Europas als positives Beispiel wirken, auch der kolonialen und imperialen Vergangenheit des Kontinents die angemessene öffentliche Beachtung zu schenken.“

In den USA geht es längst auch wieder in die andere Richtung. In einigen Bundesstaaten wird darum gerungen, ob und wie überhaupt das Thema Sklaverei im Schulunterricht vorkommt. Sklavenwirtschaft ist unbestreitbar eine historische Grundlage der „Neuen Welt“.

Demokratie muss sich zunehmend gegen rechte Aggression verteidigen. Putin begründet den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit imperialen Wahnvorstellungen und antisemitischem Irrsinn: Der ukrainische Präsident Selenskyj, ein Jude, führe eine Nazi-Bande an.

Für die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte ist das Humboldt Forum nun der wichtigste Ort. Es war anfangs darauf nicht oder nur schlecht vorbereitet. Wobei es sich als „lernende Institution“ begreift. Auf Bildschirmen mit talking heads wird die Bedeutung der Benin-Bronzen ausgeführt. Die Rückgabe der Raubkunst ist beschlossene Sache. Und aus Raubkunststücken können Leihgaben werden.

Wie auf einem Basar

Es bewegt sich etwas. Doch schnell schnappt die didaktische Falle zu. Im Eingang zu den afrikanischen Sammlungen sind koloniale Biografien dokumentiert. Zu kleinteilig, verwirrend. Man staunt, dass anno 2022 immer noch namentlich ein „Ethnologisches Museum“ existiert, während in unmittelbarer Nachbarschaft das Museum für Asiatische Kunst auf Besucher wartet. Hier Kunst, dort Objekte ethnologischer Forschung. Man muss nicht sehr woke eingestellt sein, um diese Unterscheidung anachronistisch zu finden.

Und dann beginnt das Schattenreich vollgestopfter Vitrinen. Die afrikanischen Kunstwerke und Alltagsdinge, Masken, Skulpturen, Werkzeuge, Schmuck, finden sich in drangvoller Enge. Nur wenige Objekte wie der prachtvolle Thron aus Bamun, ein „Geschenk“ von König Njoya an Kaiser Wilhelm II., bekommen großzügigeren Raum.

Die Sammlungen umfassen eine halbe Million Stücke. Es ist verständlich, dass das Museum so viel wie möglich in den neuen Hallen zeigen wollte nach dem Umzug von Dahlem in die Mitte der Hauptstadt. Doch Überfülle verschlägt die Betrachtung, die Ästhetik der Ausstellung unterläuft die erklärte Absicht, von der kolonialen Tradition wegzukommen.

Nie würde man europäische Objekte von vergleichbarer Qualität so zeigen. Die Lage entspannt sich in den asiatischen Räumen. Endlich Luft zum Atmen und eine angemessene, zuweilen elegante Ausstellung. China ist, mit Indien, der Gewinner im Humboldt Forum.

Streit um die Inschrift des Königs

Es hakt nicht nur im Innern des 600-Millionen-Euro-Projekts. Das rekonstruierte Schloss steht für sämtliche Seiten der preußischen Vergangenheit, die dunklen wie die helleren. Mit dem kalten Bau wird man sich irgendwann abfinden. Dass aber ein Kreuz und eine fromme Inschrift die Kuppel des Humboldt Forums krönen, wirkt absolut widersinnig, wenn man darunter ein Museum neuen Typs und einen Ort für vielfältige Kulturen und ein zeitgemäßes Geschichtsverständnis schaffen will. Kreuz und Schwert waren Insignien der europäischen Mächte, die sich damit die Erde untertan machten, Klassiker des Kolonialismus.

Claudia Roth hat angeregt, die Inschrift zeitweise zu überblenden. Aber der grünen Kulturministerin fehlt der Zugriff, sie wirkte auch bei der Diskussion um die Documenta zögerlich. Die Inschrift stellte König Friedrich Wilhelm IV. aus Bibelversen zusammen. Sie klingt nach Knute und Unterwerfung und christlichem Herrschaftsanspruch und kann auch antisemitisch verstanden werden.

Zur Erinnerung: Die Humboldts hatten mit Religion nichts im Sinn. Wenig bekannt ist, wie sehr Alexander von Humboldt den Antisemitismus verabscheute, er galt den Juden als großer Freund. Wilhelm von Humboldt hatte 1808, noch im preußischen Staatsdienst, die uneingeschränkte Gleichstellung der Juden gefordert und die Trennung von Staat und Kirche – die anno 2022 in der Architektur des Schlosses unterlaufen wird.

Während die Documenta grundsätzlich klären muss, wie es 2027 weitergehen soll, hat das Humboldt Forum – kaum zu glauben – ein Problem mit christlichen Symbolen. Beide Male verstricken sich kulturelle deutsche Großprojekte des 21. Jahrhunderts unglücklich in der Geschichte. Es sind aber keine Betriebsunfälle, sondern die Debattenfelder der Zukunft. Sie sind stark vermint.

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