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Übervater mit Krawatte. Ein Atatürk-Plakat am Taksim-Platz in Istanbul.

© Reuters

Die Türkei nach dem Putschversuch: Was wird unter Erdogan aus Atatürks Erbe?

Aus den Resten des Osmanischen Reichs formte Mustafa Kemal 1923 die Türkei – und richtete sie strikt nach Westen aus. Unter Erdogan sehen viele sein Vermächtnis bedroht.

Am Morgen des 16. Juli trat Recep Tayyip Erdogan in Istanbul vor die Presse. Der gescheiterte Putsch in der Nacht zuvor könne sich als „Segen Gottes“ erweisen, verkündete er. Der Umsturzversuch biete einen Anlass dafür, „dass unsere Streitkräfte, die vollkommen rein sein müssen, gesäubert werden“. Auf dem Tisch vor Erdogan war ein Blumenbukett drapiert, im Hintergrund überragte ein überlebensgroßes Porträt den türkischen Präsidenten. Das Gemälde – eines von Millionen seiner Art im ganzen Land – zeigte den Gründer der türkischen Republik im Stil eines britischen Gentleman. Mustafa Kemal Atatürk, „Vater der Türken“, wie sein Nachname übersetzt lautet, war dort im Smoking zu sehen, mit weißem Hemd und Krawatte.

Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei, sie sind auch eine Auseinandersetzung zwischen diesen zwei Männern – obwohl der eine seit fast 80 Jahren tot ist. Atatürk dürfte für Erdogan gleichermaßen Vor- und Feindbild sein. Beide verbindet ihr autoritärer Regierungsstil und ein Kult um ihre Person; „Ist Erdogan der neue Atatürk?“, titelte die „Zeit“ vor zwei Jahren. Andererseits wirkt der türkische Präsident, Gründer der islamisch-konservativen AKP, zunehmend wie der Totengräber all dessen, wofür der überzeugte Laizist Mustafa Kemal einst eintrat. Viele fragen sich dieser Tage, wie viel in Erdogans „gesäuberter“ neuer Türkei von Atatürks Erbe bleiben wird.

Dass selbst Erdogan, trotz aller ideologischen Unterschiede, Bezug nimmt auf den „Vater der Türken“ liegt daran, dass die Geschichte des Staates und die seines Gründers untrennbar miteinander verbunden sind. Ohne Atatürk gäbe es die Türkei nicht. Er ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, wie ein einzelner Mensch die Geschichte eines ganzen Landes prägen kann.

In der Zeit, als Atatürk an der Macht war, von Beginn der 1920er Jahre bis zu seinem Tod 1938, veränderte er die türkische Gesellschaft grundlegend und richtete sie strikt Richtung Westen aus. Die arabische Schrift ersetzte er durch das römische Alphabet, er führte den gregorianischen Kalender und das metrische System ein, sorgte zumindest auf dem Papier für die Gleichstellung von Mann und Frau, machte aus Untertanen in einem Vielvölkerreich Bürger einer modernen Nation – und trennte Staat von Religion. Noch immer ist er in dem Land, das er schuf, allgegenwärtig. Kein Klassenzimmer ohne sein Bild, keine Stadt ohne einen Platz, der nach ihm benannt ist. Selbst in Berlin kann man seinem Antlitz, in türkischen Cafés und auf Autos, häufig begegnen.

Als Mustafa Kemal 1881 geboren wurde, regierte in Istanbul noch ein Sultan. Dieser herrschte über das Osmanische Reich, das sich über drei Kontinente erstreckte: von Tunesien bis nach Jemen, von Albanien bis an den Persischen Golf. Als Kalif betrachtete sich der Sultan zugleich als religiöser Führer aller Muslime. In seinem Reich genossen diese eine Vorrangstellung.

Atatürk wuchs im muslimischen Viertel von Selanik auf, dem heutigen Thessaloniki, damals eine kosmopolitische und mehrheitlich jüdische Stadt. Wie dort lebten an vielen Orten des Reichs Menschen unterschiedlichster Herkunft nebeneinander: Araber, Kurden, Armenier, Bulgaren, Griechen. Atatürk war blond und blauäugig. Bis heute halten sich Gerüchte: War er slawischer Abstammung? Heimlicher Armenier? Oder gehörte er – eine antisemitisch gefärbte Theorie – zu den Dönmeh, den zum Islam konvertierten Juden?

An allen Schulen gehörte der junge Mustafa zu den Besten

1683 hatten die Türken noch Wien belagert, im 19. Jahrhundert war von der einstigen Stärke wenig geblieben, der Glanz verblasst. Wirtschaft und Wissenschaft konnten nicht mithalten mit der Entwicklung in West- und Mitteleuropa, die Staatsschulden stiegen. Das Riesenreich, der „kranke Mann am Bosporus“, begann zu zerbröckeln. Es war das Zeitalter von Nationalismus und Imperialismus: 1830 eroberte zum Beispiel Frankreich das osmanisch kontrollierte Algerien, und im Reich selbst forderten immer mehr Völker ihre Unabhängigkeit ein. Die Bulgaren etwa erlangten diese 1878, als die Russen die Türken schlugen.

Atatürks Vater, erst Zollbeamter, dann Holzhändler, starb früh. Kindheit und Jugend Mustafa Kemals waren geprägt vom Leben auf dem Balkan, das türkische Kernland Anatolien lernte er erst in seinen 30ern kennen. Was ihn früh auszeichnete, war seine Intelligenz. An allen Schulen, die er besuchte, gehörte er zu den Jahrgangsbesten.

Familiennamen waren nicht üblich im Osmanischen Reich, erst Mustafa Kemal führte sie ein – im Zuge dessen verlieh ihm das Parlament den Namen Atatürk. Ursprünglich hieß er bloß Mustafa, den Beinamen Kemal („Vollkommenheit“) bekam er angeblich als Auszeichnung in der Schule. Sollte die Geschichte stimmen, dann wäre Mustafas Mathelehrer, ohne es geahnt zu haben, Namensgeber einer Ideologie, die überall in der nicht-westlichen und insbesondere in der muslimischen Welt enorme Kraft entfaltete: des Kemalismus.

Als Zwölfjähriger bewarb sich Atatürk gegen den Willen seiner Mutter heimlich an der militärischen Mittelschule. Seine Karriere in der Armee war damit vorgezeichnet. Die nächsten Stationen: eine Kadettenschule in Mazedonien und die Militärakademie in Istanbul. Dort kam der junge Mann in Kontakt mit kritischen Ideen, die unter der Elite weit verbreitet waren, besonders im europäischen Teil des Reichs. Die Vision: eine Modernisierung nach westlichem Vorbild. Für Atatürk, der Französisch sprach und Deutsch lernte, konnte diese Modernisierung gar nicht weit genug gehen. Auch wenn er die ersten Jahre nach dem Abschluss an der Akademie abseits des Geschehens verbrachte – auf einem Außenposten in Damaskus, als Militärattaché in Sofia –, knüpfte er doch weitreichende Verbindungen ins oppositionelle Lager.

Personenkult. Vertreter der Partei CHP besuchen im Mai dieses Jahres das Atatürk-Mausoleum in Ankara - große Porträts ihres Parteigründers inklusive.
Personenkult. Vertreter der Partei CHP besuchen im Mai dieses Jahres das Atatürk-Mausoleum in Ankara - große Porträts ihres Parteigründers inklusive.

© Reuters

Im Angesicht des Niedergangs hatte sich das Sultanat selbst ab 1839 an Reformen versucht. So wurden zum Beispiel alle Untertanen ungeachtet ihrer Religion zivilrechtlich gleichgestellt. Doch 1878 widerrief Sultan Abdülhamid II. die beschlossene Verfassung, das Parlament kam nicht mehr zusammen. Der Weg zu einer konstitutionellen Monarchie war damit vorerst beendet.

Er träumt nicht von einem großen Reich, sondern von einer Nation

Die Jungtürken, elitäre Oppositionelle, die genau diese Staatsform anstrebten, ergriffen 1908 die Macht. Den weiteren Zerfall des Vielvölkerstaats konnten sie jedoch nicht verhindern. Nach den zwei Balkankriegen gegen unterschiedliche europäische Mächte musste das Reich seine Gebiete in Europa fast komplett abtreten. Atatürks Mutter floh damals von Selanik nach Istanbul.

Im Ersten Weltkrieg kämpften die Türken auf Seiten Deutschlands – und verloren. Die Sieger besetzen das Reich und machten Pläne über dessen Zerstückelung. Griechenland hätte den Westen der heutigen Türkei bekommen, Italien den Südwesten, Frankreich und Großbritannien hätten den Süden unter sich aufgeteilt, so wie sie es mit Arabien taten, und der Osten Anatoliens wäre an den neu entstandenen armenischen Staat gegangen; während des Kriegs hatte das Reich einen Genozid an den Armeniern verübt.

Den Türken selbst wäre nur ein Streifen um Ankara geblieben. In dieser verzweifelten Situation wurde Mustafa Kemal zum Mann der Stunde. Als General genoss er hohes Ansehen. Er war als Held der Schlacht von Gallipoli bekannt, wo das Osmanische Reich während des Weltkriegs die Briten geschlagen hatte. Im jungtürkischen „Komitee für Einheit und Fortschritt“ war er bisher nicht an seinem Rivalen Enver Pascha (übrigens einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern) vorbeigekommen.

Doch nun, 1919, als die Griechen ihre von den Briten unterstützte Invasion von Smyrna (heute: Izmir) begannen, setzte er sich an die Spitze des Widerstands gegen die Besatzungsmächte. Zurückgepfiffen von der Regierung in Istanbul, legte er seine Uniform ab und begann mit dem Aufbau eines Gegenstaats. Die von ihm 1920 im bis dahin unbedeutenden Ankara gegründete Nationalversammlung machte ihn zu ihrem Vorsitzenden – und lehnte den von der Regierung unterschriebenen Friedensvertrag von Sèvres, das türkische Pendant zu Versailles, empört ab.

Anders als Enver Pascha träumt Mustafa Kemal nicht von einem großen Reich, das in Envers Vorstellung die Turkvölker Mittelasiens einschloss. Stattdessen schwebte ihm schon früh eine Nation etwa in den Grenzen der heutigen Türkei vor. „A realist of genius“, nennt ihn sein Biograf Andrew Mango, einen genialen Pragmatiker.

Insgesamt vier Jahre dauert der Unabhängigkeitskrieg gegen die Besatzungsmächte, mit Mustafa Kemal als türkischem Oberbefehlshaber. Ein paar Jahre zuvor hat dieser in seinem Tagebuch vermerkt: „Sollte ich eines Tages großen Einfluss oder Macht besitzen, halte ich es für das Beste, unsere Gesellschaft schlagartig ... zu verändern.“

Diese Idee wird 1923 Wirklichkeit: Mustafa Kemal ruft die Republik aus, wird deren erster Präsident und beginnt eine Kulturrevolution. Schon im Jahr zuvor hat er das Sultanat abschaffen lassen, später folgt das Kalifat. Alle Angehörigen der Sultans-Familie müssen die Türkei verlassen, religiöse Gerichtshöfe schließen, Religionsschulen werden aufgelöst, das Schweizer Zivil- und das italienische Strafrecht übernommen, der Sonntag wird wie im christlichen Europa zum Ruhetag.

Atatürks Staat ist eine Erziehungsdiktatur – und er selbst der Oberlehrer

Der „entschiedene Agnostiker“ Atatürk, wie ihn der Turkologe Klaus Kreiser nennt, hält nicht viel vom Islam, er will dessen Einfluss zurückdrängen – und noch weniger hält er von der Sitte, dass Frauen ihr Gesicht verschleiern. Barbarisch sei das. Überhaupt ist der stets gut gekleidete Mann besessen von Äußerlichkeiten. „Ist unsere Kleidung zivilisiert und international?“, fragt er und bricht sogar eigens zu einer Reise auf, um sein „Hutgesetz“ von 1925 zu propagieren, das den Fez verbietet. Atatürk selbst trägt Panama-Hut. Ein Symbol für den Bruch mit der Vergangenheit, ebenso wie die neue Hauptstadt Ankara.

In die gleiche Kategorie fällt wohl seine Heirat 1923 mit der jungen Latife, die ungewöhnlich emanzipiert ist und sogar ein wenig Jura an der Sorbonne studiert hat. Auch wenn Liebe im Spiel gewesen sein mag: Glücklich werden die beiden nicht. Mustafa Kemal verbringt seine Abende am liebsten Raki trinkend im Kreis von Gefährten – der Alkohol, dem er seit seiner Jugend zuspricht, wird ihn schließlich umbringen, „Atatürk-Krankheit“ nennen die Türken deshalb heute Sucht und Leberzirrhose. Mit Latifes Kritik an seinem Lebensstil kann er nicht umgehen, und so verstößt er sie zweieinhalb Jahre später nach alter Sitte.

Überhaupt erträgt Mustafa Kemal Widerspruch nur schwer. Er stimmt einer Opposition zu seiner „Republikanischen Volkspartei“ (CHP) zunächst zu, lässt die gegnerische Partei später aber wieder verbieten; eine Reihe ihrer Anhänger wird zum Tode verurteilt. Der Abschied vom Vielvölkerreich bedeutet, dass sich ethnische Minderheiten der neuen nationalen Erzählung bedingungslos unterzuordnen haben. „Glücklich derjenige, der sich als Türke bezeichnet“, lautet ein Leitsatz Atatürks. Der Staat schlägt einen kurdischen Aufstand in Südostanatolien brutal nieder.

Ein blutrünstiger Despot ist Atatürk trotzdem nicht. Eher etabliert er eine Erziehungsdiktatur, die eine demokratische Entwicklung in der Zukunft möglich macht. Ihm selbst fällt dabei die Rolle als Oberlehrer der Nation zu. Die sechs Prinzipien seines Kemalismus – Nationalismus, Säkularismus, Modernismus, Republikanismus, Populismus, Etatismus – finden sich bis heute in den Grundsätzen der CHP, nun in der Opposition. Die Armee galt lange als ihr Garant.

Der Personenkult um Atatürk wird erst nach seinem Tod übermächtig, er geht so weit, dass negative Bemerkungen über Mustafa Kemal unter Strafe gestellt werden. Peter Scholl-Latour hat das Credo der kemalistischen Türkei einmal treffend zusammengefasst: „Es gibt keinen Gott außer der Nation, und Atatürk ist ihr Prophet.“

Das Erbe des „Vaters der Türken“ ist also widersprüchlich: fortschrittlich, aber autoritär. Und so sahen Beobachter in Erdogans Aufstieg anfangs eine überfällige Entwicklung hin zu mehr Demokratie. Der türkische Präsident repräsentiert eben nicht die alte Elite, sondern den großen, meist gläubigen Teil der Bevölkerung, gegen deren Vorstellungen Atatürk einst seine Kulturrevolution durchgesetzt hatte. Ihnen verlieh Erdogan eine Stimme und ließ zum Beispiel Kopftücher an öffentlichen Schulen wieder zu.

Als Ministerpräsident (2003-2014) suchte er sogar die Aussöhnung mit den Kurden. Das ist mittlerweile Geschichte – und der positiven Seite des Kemalismus könnte dies auch bald drohen.

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