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Polen: Wir fahr’n nach Lodz

Lodz war einst das Textilzentrum Europas. Nach der Wende standen alle Räder still. Nun erfindet sich der Ort neu – und begeistert sogar Hollywood.

Patron Izrael Poznanski würde sich wundern. In seiner Fabrik ist wieder Leben. Doch statt eiliger Arbeiter schlendern nun junge Paare durch das geschwungene Fabriktor. Über den frisch gepflasterten Innenhof spazieren Besucher und schlecken Eis. Der fünfstöckige Koloss, einst eine der größten Textilfabriken Polens, glänzt in der Sonne. Die Sprossenfenster blitzen. Wo früher die Webstühle ratterten, zischen jetzt Espressomaschinen.

Lodz, im 19. Jahrhundert das Textilzentrum Europas, ist wieder erwacht. Jahrelang stand Polens zweitgrößte Stadt für postindustrielle Tristesse. Lódz war ein Verlierer der Wende, mit dem Ende des Sozialismus standen die Webstühle still, die Textilproduktion wanderte weiter nach Osten. Das Einzige, was hier wuchs, war die Arbeitslosigkeit – und das Unkraut auf den vielen leeren Fabrikhallen. "Das ändert sich jetzt", sagt Marcin Czyz. Der 28-Jährige zeigt Touristen, wie sich die Stadt herausputzt – und oft klingt Stolz in seiner Stimme mit. Zum Beispiel, wenn er auf das gläserne Gebäude zeigt, das den Innenhof von Poznanskis Textilfabrik säumt. "Allein hier sind 300 Geschäfte drin", sagt er. In den roten Klinkerbauten sind außerdem ein Kino und ein Kunstmuseum entstanden, und auf dem Platz vor der ehemaligen Fabrikfeuerwehr bauen Musiker und Theaterleute ihre Bühnen auf. "Manufaktura" heißt die Stadt in der Stadt. Mit 150.000 Quadratmetern ist das Areal so groß, dass eine eigene Straßenbahn auf Gummirädern über das Gelände bimmelt.

Ein gewisser Hang zum Größenwahn gehörte in Lodz, das auch den Beinamen "Manchester Polens" trägt, schon immer dazu. Das hängt mit seiner Entstehung zusammen: Lódz war die erste Sonderwirtschaftszone Europas. Wer hier Fabriken baute, musste weder Steuern noch nennenswerte Zinsen für Kredite bezahlen. Die Lodzer Fabrikanten belieferten dafür die Besatzermacht Russland mit billigen Textilien. Der "Lodzermensch", wie der Schriftsteller Wladyslaw Reymont die Industriellen bezeichnete, war ehrgeizig und geldgierig.

Wettkampf der prunkvollsten Grabsteine

Unternehmer aus ganz Europa rochen das große Geld. Juden, Russen, Polen und vor allem Deutsche kamen. Heinzel, Scheibler, Kopisch und Geyer: Auf dem Friedhof liefern sie sich bis heute einen Wettkampf um den prunkvollsten Grabstein. Juliusz Heinzel verewigte sich mit einer Miniaturkopie der Zygmunt-Kapelle vom Krakauer Wawel, dem polnischen Königssitz. Izrael Poznanski ließ sich auf dem jüdischen Friedhof die laut Lodzer Stadtprospekt "größte jüdische Grabstätte der Welt" bauen – mit Säulen, riesigen Marmorpfeilern und einem Mosaik aus zwei Millionen Glassteinen.

Dass Lodz es aber keinesfalls nötig hat, zu gefallen, stellt die Stadt gleich bei der Ankunft klar. "Lódz Fabryczna" steht in blauen Neonbuchstaben über dem grauen Bahnhofsgebäude. Die Straßenbahn quietscht erbärmlich und springt fast aus den Schienen, die Namen der Straßen sind auf braunen Emailleschildern verblasst. Im Hotel "Déjà Vu", einer alten Fabrikantenvilla, knarren die Dielen, bunte Jugendstilfenster und dunkle Holztäfelungen dämpfen das Licht. Eine breite, durchgetretene Treppe führt zum Zimmer hinauf. An den Wänden hängen Mitglieder der Familie in Öl gemalt und blicken streng. An der Rezeption hängt – in braunen Ölfarben – eine alte Stadtansicht von Lodz: Schornsteine über Schornsteine.

Jahrzehntelang rieselte der Ruß auf die Fabriken der Industriebarone. Jetzt macht die "Weiße Fabrik" an der Ulica Piotrkowska ihrem Namen wieder alle Ehre. Freundlich strahlt das frisch gestrichene Gebäude gegen das Grau seiner Nachbarn an. Drinnen, im Textilmuseum, reihen sich Webstühle aneinander, Bahnen bunter Stoffe hängen von dunklen Balken. Das Herz der Fabrik ist stehen geblieben: Die älteste Dampfmaschine Polens ruht in einem Pavillon im Hof. Ludwig Geyer aus Sachsen hatte sie in den 1830er Jahren aus Belgien importiert. Er war einer der ersten Fabrikanten, die in Lodz das große Geld suchten, fanden und doch bankrott gingen.

Ans Scheitern will heute niemand mehr denken. In der Ulica Piotrkowska, der Einkaufsstraße von Lodz, schütteln sich Firmenvertreter auf Fotostellwänden die Hände. Dell, Gillette, Fuji – die Liste der ausländischen Investoren ist lang. Die Ulica Piotrkowska, erklärt Marcin Czyz, ist mit über sechs Kilometern die längste Fußgängerzone Europas. Eine Bürgerinitiative hat die Straße restaurieren lassen, die Spender haben ihre Namen auf den Pflastersteinen verewigt. Türmchen und Erker schmücken die Jugendstilhäuser rechts und links der Straße. Überall erkennt man liebevolle Details: Schwäne schwimmen über Glasfenster. Auf einem Dach thronen die drei Symbole des industriellen Lodz: Freiheit, Industrie und Handel.

Größte Kneipendichte Polens

Lodz rühmt sich auch der größten Kneipendichte Polens, schon in den Neunzigern verwandelten sich einige der Fabriken in riesige Clubs. In den Häusern sind trendige Clubs, Bars und Cafés untergebracht. In den Restaurants taucht man dagegen in die Welt des alten Lódz ein – und verrenkt sich den Kopf beim Betrachten alter Kassettendecken aus dunklem Holz und Gold. Im alten Grand Hotel raschelt der Samt, und im Salon einer alten Fabrikantenvilla speist man wie ein Industriebaron.

Das "Neue Lodz" will wieder sein wie das alte. Weltoffen, multikulturell und selbstbewusst. Doch überall spürt man, wie viel kaputt und verloren gegangen ist. Dort, wo einst die größte Lódzer Synagoge stand, gähnt bis heute ein leerer Platz. Die gut 200.000 Juden von "Litzmannstadt", wie die Nazis Lodz umgetauft hatten, kamen im Ghetto der Stadt und in den Konzentrationslagern um. Am Plac Wolnosci, dem Platz der Freiheit, wirbt die Stadt für das "Festival des Dialogs der vier Kulturen". Jedes Jahr im Herbst beschwört Lodz die internationale Atmosphäre der Stadt wieder herauf.

Weiter draußen werden die Häuser wieder rußiger. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Aus den Mauern von Karol Scheiblers Fabrik sprießen noch die Zweige. Als Dinosaurier des Industriezeitalters liegt die Spinnerei des größten Lodzer Fabrikanten 200 Meter lang und backsteinschwer an der Ulica Tymienieckiego. Mit ihren Ecktürmen und Zinnen sieht sie wie eine Festung aus. Den Eingang schmücken gusseiserne Ornamente im arabischen Stil. Die runde Uhr über dem Eingang, die jahrzehntelang den Takt der Schichten vorgab, steht. Doch drinnen hämmern schon die Handwerker. Ins Wärterhäuschen ist eine Immobilienfirma eingezogen, sie baut die alten Fabrikhallen zu Lofts um.

Lynch, Polanski und Wajda in "HollyLodz"

Still ist es gegenüber in der Arbeitersiedlung "Ksiezy Mlyn", übersetzt "Pfarrmühle". Noch immer wohnen hier ehemalige Arbeiter, die bis zum Ende der achtziger Jahre Stoffe und Kleidung für die Sowjetunion produzierten. Die fabrikeigenen "Konsumy", in denen sie früher einkauften, sind längst geschlossen. Kinder huschen über rundes Steinpflaster, in einem Fenster sonnt sich eine Katze. "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alles durchsanieren und hinterher Leerstand haben", sagt Edyta Kowalska. Die junge Polin betreut die EU-Programme für Stadtentwicklung, von denen Lodz seit einigen Jahren profitiert.

Das Geld reicher Mäzene lockte im 19. Jahrhundert Künstler nach Lodz, im Kunstmuseum hängen neben den polnischen Malern Tadeusz Kantor und Katarzyna Kobro auch Lionel Feininger und Pablo Picasso. Heute ist es vor allem die Industriearchitektur, die die Künstler interessiert: So drehte der amerikanische Regisseur David Lynch in Lodz Teile seines Films "Inland Empire". Lynch hat der Stadt ein altes Heizkraftwerk abgekauft – bald soll dort das Lódzer Filmfestival Camerimage statt finden.In "HollyLodz" studierten die Regisseure Roman Polanski, Krzystzof Kieslowski und Andre Wajda.

Die weiße, vor kurzem renovierte Villa des Industriellen Edward Herbst erinnert an ein italienisches Renaissanceschlösschen. Von Herbsts Schreibtisch aus, mit den aufgeschlagenen Rechnungsbüchern, kann man noch immer in die Fenster der Fabrik spähen. Im Ballsaal finden bis heute Konzerte statt, das Jagdzimmer riecht noch immer nach Tabak. Kaum ein anderes Gebäude verkörpert die Arroganz des Geldes aber so sehr wie der Palast von Izrael Poznanski. Als die Architekten den Fabrikanten fragten, in welchem Stil er ihn haben wollte, soll er gesagt haben: "Wieso ein Stil? Ich kann mir doch alle leisten." So ragen neoklassizistische Säulen an den Balkonen hoch, barocke Blätter und Blumen zieren die Fenster.

Sonja Volkmann-Schluck

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