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Eine ukrainische Gruppe demonstriert beim CSD in Berlin für ihr Land (Archivbild).

© dpa/Christoph Soeder

„In Berlin fange ich neu an“: Queere Geflüchtete aus der Ukraine treffen sich in Hellersdorf

Für queere Geflüchtete aus der Ukraine gibt es ein neues Zentrum in Hellersdorf. Kontakte in die queere Szene Berlins fehlt oft noch. Ein Ortstermin

Ein Ort für alle will das „Grüne Haus“ in Marzahn-Hellersdorf sein, und tatsächlich wird es diesem Motto gerecht. Ein Kinderclub, ein Nachbarschaftstreff für Senior*innen, eine Tanzschule – und mittlerweile auch ein queeres Zentrum für ukrainische Geflüchtete.

Wer zum ersten Mal hierher kommt, könnte den Eindruck haben, er sei an der falschen Adresse. Denn vor allem fallen zwei an die Wand geschraubte Fahrräder ins Auge. „Es ist logisch zu vermuten, dass sich hier früher ein Fahrradclub befand“, sagt auch Maryna Usmanova, die Leiterin des queeren Zentrums. Sie kam im März mit ihrer Familie – ihrem Mann, der trans ist, und ihrem Kind – aus Cherson nach Berlin. „Aber ich weiß es nicht genau. Wir sind noch neu hier, wir kennen niemanden und leben uns gerade erst ein.“ 

Eine Seniorin geht an der offenen Tür vorbei und blickt fragend in den Raum. Sie ist offensichtlich neugierig, wer ihre neuen Nachbarn sind. „Wir sind queere Menschen“, antwortet Marianna Polevikova, eine langjährige Freundin und Kollegin von Maryna aus der Menschenrechtsbewegung für sexuelle Minderheiten in der Ukraine. „Ach so“, antwortet die Frau.

Der Dialog geht nicht weiter – die Neuankömmlinge im „Grünen Haus“ beherrschen die deutsche Sprache noch nicht ausreichend. An Kontakten in der Berliner Queer-Community fehlt es ihnen bisher auch. „Noch“, fügt Maryna hinzu: „Das werden wir schaffen.“

In Cherson war Maryna Usmanowa Leiterin der einflussreichen NGO „Die Andere“, die sich für LGBTI-Rechte einsetzt. In Berlin muss sie von Grund auf neu anfangen.

Ein Treffen im queeren Zentrum in Marzahn-Hellersdorf. An diesem Abend geht es eher ruhig zu, davor wurde schon die Befreiung von Cherson gefeiert.

© Valeriia Semenius/Tagesspiegel

Eröffnet wurde das Zentrum mit einer Halloween-Party , woran die Papiergirlanden mit Kürbissen erinnern. Sie hängen noch an der Decke, sollen aber bald durch Weihnachtsschmuck ersetzt werden. Eine weitere Feier war der Befreiung von Cherson von den russischen Invasoren gewidmet. Heute geht es eher ruhig zu: Die Anwesenden trinken Tee und spielen ein Brettspiel namens „Dixit“.

Betrieben wird das Zentrum von Quarteera, einem Verein russischsprachiger queerer Menschen. Quarteera hat bereits ein Zentrum am Arkonaplatz in Mitte. Der Verein hilft sowohl Flüchtlingen aus der Ukraine als auch Russen, die vor dem grausamen Regime fliehen. Es gab bisher keine Konflikte zwischen ihnen – aber dennoch, so Maryna Usmanova, fühlten sich ukrainische queere Menschen unwohl, wenn sie den Russen begegneten.

Die nationale Identität ist jetzt oft wichtiger

Die nationale Identität ist jetzt oft wichtiger als die sexuelle oder geschlechtliche Identität: Die Ablehnung Russlands stellt alles andere in den Schatten. Deshalb wollen einige ukrainische Flüchtlinge selbst mit den so genannten guten Russen, die aus ihrem Land geflohen sind, nichts zu tun haben. Auch wenn sie selbst Russisch sprechen, genau wie Usmanova.

Maryna Usmanova, Leiterin des queeren Zentrums. In Cherson war sie Leiterin einer einflussreichen NGO.

© Valeriia Semeniuk/Tagesspiegel

„Guten Abend!“, grüßt auf Ukrainisch eine Frau, die hier zu ersten Mal vorbeischaut. Sie hat nichts dagegen, fotografiert zu werden, will aber nicht, dass ihr Name online oder in der Zeitung genannt wird. „Ich komme vom Ostkreuz“, antwortet die ukrainische queere Frau auf die Frage, woher sie stamme. Damit wird sofort wird klar, dass sie schon lange in Berlin ist: Seit 2009, als sie hier mit dem Studium begann. Sie will sich vor allem mit anderen ukrainischen queeren Menschen treffen. Ansonsten sei sie keine regelmäßige Besucherin von Szene-Treffpunkten, erzählt sie.

Ein anderer Gast ist dagegen eine bekannte Persönlichkeit in der Ukraine, auch außerhalb der queeren Community. Es ist Loki von Dorn, eine nicht-binäre Person, die zum Thema Nicht-Binarität auch oft von Medien in der Ukraine befragt wurde.

Vom Beruf ist Loki Journalist – erzählt aber, lange Zeit nach der wahren Berufung gesucht und sich schließlich für die Schauspielerei entschieden zu haben. An schauspielerischem Talent mangelt es Loki offensichtlich nicht, aber die Eltern waren völlig dagegen. Erst vor ein paar Jahren hat sich Loki entschieden, das lang Erträumte endlich zu tun. Loki begann eine Schauspielkarriere, meldete sich beim Amateurtheater. Doch dann begann der Krieg, und mit ihm die Flucht nach Berlin.

Loki von Dorn: In der Ukraine oft nachgefragt zum Thema nicht-binäre Menschen - bis der Krieg kam.

© Valeriia Semeniuk/Tagesspiegel

„Aber alles ist nicht so schlimm“, versucht Loki zu scherzen, „jetzt fange ich in Berlin wieder von Null an. Ich werde Deutsch lernen, und wenn ich 50 bin, werde ich vielleicht berühmt sein.“ Loki verliebte sich auf den ersten Blick in Berlin, fühlt sich hier bereits zu Hause – und das trotz sechs verschiedenen Wohnungen in sechs Monaten.

Ukrainische queere Flüchtlinge haben bisher gezögert, nach Marzahn-Hellersdorf zu ziehen. Aber diejenigen, die hierher gekommen sind, gefällt der Ort bereits sehr gut. Mit seinen Plattenbauten aus der DDR-Zeit ähnelt der Bezirk den Trabantenstädte der ukrainischen Metropolen. „Fast wie zu Hause“, sagt Marianna Polevikova.

Viele zögern mit dem Coming-out in Berlin

Das ist aber nicht das einzige, was sie an ihr Heimatland erinnert. Sie gibt zu, dass sie hier manchmal auch Diskriminierung von ihren eigenen Landsleuten, Geflüchteten wie sie, erfährt. Genau wie zuvor in der Ukraine.

So postete sie beispielsweise ein Foto ihrer Familie – sie, ihre Lebensgefährtin und ihr Sohn – in einer Selbsthilfegruppe für ukrainische Flüchtlinge, als sie eine Wohnung suchte. Sie erhielt daraufhin viele unangenehme Kommentare. „Jemand schrieb sogar: Wenn du ein Mann bist, geh an die Front. Und schickte ein Bild von einem blutigen Soldaten.“ Damit war gemeint, dass Marianna Polevikova“ ein seiner Stelle sein solle.

Dies mag der Grund sein, warum sich viele ukrainische Geflüchtete gegen ein Coming out in Berlin entscheiden, obwohl die Stadt an sich ein guter Ort dafür wäre. Sie fürchten vor allem die Reaktion ihrer Landsleute. „Aber ich hoffe, dass die heterosexuellen Ukrainer*innen in Berlin lernen, toleranter zu sein“, sagt Maryna Usmanova. Solange das nicht geschehen ist, bleibt immer das queere Zentrum als Rückzugsort.

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