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Ökumenischer Kirchentag: Kirche mitten im Sturm

„Heuchler“, brüllt einer, „Lügner“. Auf dem Münchner Kirchentag kam es zum Eklat. Kein Wunder, es ging um sexuellen Missbrauch. Und darum, dass noch immer Antworten fehlen.

Die Kameraleute wissen nicht, wo sie hinrennen sollen. Zu dem Mann, der zur Bühne stürzt und „Heuchler! Lügner“ brüllt? Oder zu Pater Klaus Mertes, dem Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, der empfangen wird mit Jubel und Klatschen aus tausenden Händen?

Zeitungen, Fernsehen, Internet beschäftigen sich seit vier Monaten pausenlos mit dem Thema: sexueller Missbrauch. Was da zu lesen und zu hören ist über das Leid, das Menschen im Namen von Kirche und Schule oder einfach von Vätern, Onkeln, Nachbarn angetan wurde, hat ganz Deutschland in Aufruhr versetzt. Wie sehr, ist an diesem Freitagvormittag in München in der Messehalle C1 zu spüren. Hier, auf dem ökumenischen Kirchentag findet gerade die erste zentrale Veranstaltung zu diesem Thema statt. Es ist die erste in dieser Dimension, die es in Deutschland dazu jemals gegeben hat. Es ist vielleicht auch der Kern dieses Kirchentages.

5500 Menschen sind gekommen, Junge und Grauhaarige, Männer und Frauen. Nicht alle können ruhig auf ihren Papphockern sitzen bleiben, während der kahl rasierte Norbert Denef, 50, Anzug, am Bühnenrand wütet, dass man die Veranstaltung sofort abbrechen solle, dass das ein „verlogenes Theater“ sei, weil sich die Opfer selbst vertreten wollen und nicht durch irgendwelche Canisius-Rektoren oder Therapeuten. Von den 5500 Papphockern brüllt es zurück, er solle die Klappe halten, man sei wegen der Veranstaltung gekommen, nicht wegen ihm. Die Pfadfinder, die für die Ordnung in der Halle verantwortlich sind, versuchen Denef von der Bühne abzubringen, was nicht gelingt, auch weil ihn die Kameraleute umringen.

Pater Mertes umfasst das Redepult mit beiden Händen und setzt immer wieder an mit fester, lauter Stimme, versucht gegen die Schreie von Denef zu erklären, dass er der Letzte ist, der sich als Anwalt der Opfer versteht. Er sei Vertreter der Täter-Institution, ganz klar. Und doch hatte er ein Ohr für das Leid der Missbrauchten wie keiner aus der Kirche vor ihm. Unerschrocken und unerbittlich hat er Ende Januar auf die Missstände in seiner Schule aufmerksam gemacht und eine riesige Lawine ausgelöst. Er sei noch „mitten im Sturm“, sagt er, spricht darüber, wie schwierig es Ordensbrüdern gefallen ist, die Perspektive zu wechseln, die Aufklärung von Unrecht in den Mittelpunkt zu stellen und nicht den Schutz der Institution wie seit Jahrhunderten. Mertes redet immer schneller, gerät in Rage, fragt mit Blick auf die Kirche: „Gibt es Themen, bei denen wir uns zurzeit sprachlos fühlen, weil die Wahrheit zu bitter ist?“ Spricht über die verdrängte Sexualität in der katholischen Kirche, über das oft „infantile Verhältnis von Priestern zur Autorität“, all das, was den „katholischen Geschmack“ des Missbrauchs ausmacht. „Ungeheuerlich“ sei es, wenn ein Priester im Namen Christi ein Kind missbrauche, donnert der sonst so freundliche Mann vom Podium.

Die Macht von Priestern, der Personenkult, Mertes, packt alle zentralen Fragen an. Sagt: „Wo immer Kritik als Majestätsbeleidigung gilt, da rieche ich Anfälligkeit für Machtmissbrauch.“ Die Gefühle hunderter, tausender Menschen in dieser Messehalle sind jetzt nicht mehr zu bremsen. Sie springen auf, jubeln, klatschen, schreien, pfeifen. Mertes, der Held, Mertes, der Kirchenmann, der endlich ausspricht, was so vielen auf die Seele drückt.

Hundert Kilometer weiter werden an diesem Vormittag in Augsburg die Ermittlungen gegen Bischof Walter Mixa eingestellt. Er war bezichtigt worden, einen jungen Mann sexuell missbraucht zu haben, als dieser noch ein Jugendlicher war. Offenbar ist an den Vorwürfen nichts dran. Mixa wird es nicht helfen. Die Vorwürfe, er habe Heimkinder verprügelt, halten sich hartnäckig. Er ist sowieso abgesetzt und sitzt in einer Klinik in der Schweiz. Mixa ist letztlich an genau an dieser Selbstherrlichkeit gescheitert, die Mertes an diesem Vormittag hier in München anprangert.

Norbert Denef, das Opfer, der Querulant, gibt nun auf. Er verschwindet vom Bühnenrand. Denef wurde als Jugendlicher missbraucht von einem Geistlichen. Er hat von der Kirche Schadensersatzzahlungen erhalten, was nichts geholfen hat. Er kommt nicht zur Ruhe. Er denke jeden Tag an Selbstmord, sagt er. „Ich könnte kotzen, aber die auf dem Podium gehen heute Abend feiern.“

Eine Messehalle weiter ist die Beratungsstelle im Geistlichen Zentrum. Hier klopft, wer Schlimmes erlebt hat. Auch auf den Kirchentagen früher kamen Menschen hierher, die missbraucht wurden. Dieses Jahr sind es besonders viele, sagt eine Therapeutin. Sie kommen von überall her und nutzen den Trubel des Kirchentags, um sich zu offenbaren. Gerade der Geräuschpegel einer Messehalle verspricht Anonymität. In den provisorischen Beratungszimmern aus weißen Stellwänden stehen Kleenex-Boxen auf den Tischen. Warum sitzt kein einziges Opfer auf den Podien dieses Kirchentages? Warum fehlen sie in der Diskussion an diesem Vormittag? Wer missbraucht wurde, ist oft nicht nett und freundlich, hatte Pater Mertes gesagt. Ist das der Grund?

Vorne auf dem Podium in Halle C1 tritt jetzt Wunibald Müller ans Redepult. Er ist katholischer Theologe und Therapeut und leitet das Recollectio-Haus in Münsterschwarzach. Dort suchen katholische Priester Hilfe, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Müller weiß, was in Geistlichen vorgeht, die zu Tätern werden. Er weiß es so gut, dass auch aus ihm an diesem Vormittag die Wut herausbricht. „Die Kirche ist in ihren Grundfesten erschüttert. Jetzt ist ein Läuterungsprozess gefordert, an dessen Ende sie selbst in die Knie geht.“ Die sexuell unreifen, oft homosexuellen Priester, die Tabuisierung der Homosexualität, die fatale Wirkung des Zölibats. Alles müsse endlich hinterfragt werden.

Müller fordert, dass auch Frauen Priester werden dürfen, erst von einer gemischten Priesterschaft würde eine „positive Wirkung ausgehen“. Ungeheuerliche Sätze sind das. Von einem, dessen Haus von Bistümern finanziert wird. Solche Sätze sind jetzt möglich. Endlich. Jubel, klatschen. Eine junge Frau aus Freiburg erzählt jetzt auf dem Podium, wie schlimm es ist, dass die Kirche sich so weit von der Lebenswelt junger Leute entfernt hat. Schon öffentlich darüber zu sprechen, was Jugendliche über Sexualität denken, sei nicht möglich. Wenn ein katholischer Jugendverband dazu einladen würde, „gebe es große Aufmerksamkeit“ bei den Oberen.

Nun ist Stephan Ackermann an der Reihe, der junge Trierer Bischof und für Wunibald Müller das lebendige Hoffnungzeichen, dass die Kirche etwas ändern will. Er hat Recht: Ackermanns Ernennung zum Missbrauchsbeauftragten war wahrscheinlich eine der besten Entscheidungen, die die Bischofskonferenz seit Januar getroffen hat. Ackermann, 46, freundlich, offen, sagt jetzt, er sei erschrocken, dass es auch auf diesem Podium schon wieder nur um die Kirchen gehe und nicht um die Opfer. Er sagt, dass die Kirche doch alles tue, um aufzuklären und die Leitlinien zum Umgang mit Missbrauch zu überarbeiten. Er hat recht, und doch kommt es nicht gut an. Der Hinweis auf die Opfer wirkt wie eine Ausflucht, auch wenn Ackermann es ehrlich meint.

Auf den Papphockern wurden in der Zwischenzeit viele weiße Zettel vollgeschrieben mit Fragen ans Podium. Die Fragen lassen sich zu einer großen zusammenfassen: Wann beginnt die Kirche, sich fundamental zu ändern? Herr Ackermann? Der Bischof verweist noch mal auf die Leitlinien und darauf, dass die Kirche jetzt ein schlimmes Kapitel ihrer Geschichte aufarbeite. Er weicht aus.

Andrea Heim, die junge Frau aus Freiburg, wünscht sich, dass endlich ein richtiger Dialog zwischen Jugendlichen und der Kirche zustande kommt. Mertes wünscht sich, dass endlich innerkirchlich Tacheles geredet wird. Dass „abweichende Meinungen nicht als unkatholisch abqualifiziert und bestraft werden“. „Helfen Sie uns Bischöfen zu diesem Dialog im Vertrauen und mit Druck“, wünscht sich Bischof Ackermann. Es klingt ein bisschen wie ein Flehen und ganz so, als hätte die Kirche aus sich selbst heraus dazu keine Kraft.

90 heftige, gefühlvolle, zornige Minuten sind um. Die fleißigen Kirchentagshelfer fordern die Gäste auf der Bühne und auf den Papphockern zum Gehen auf. Die Halle muss umgebaut werden. Gleich kommt Angela Merkel.

„Es tut so weh, wenn man nicht gehört wird“, hat jemand ans schwarze Brett der Beratungsstelle im Geistlichen Zentrum geschrieben. „Das darf nie wieder sein, dass den Opfern nicht zugehört wird“, hatte Pater Mertes zum Abschluss gerufen. „Nie wieder.“

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