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Arbeiter beginnen mit der Exhumierung der sterblichen Überreste von deutschen Soldaten, sowie einer der Kollaboration beschuldigten Französin.

© dpa/AFP/Pascal Lachenaud

„Die Zeitzeugen haben uns diese Stelle gezeigt“: Exhumierung erschossener deutscher Kriegsgefangener gestartet

Ein früherer Zeuge hatte sein Schweigen über die Exekution der Kriegsgefangenen gebrochen. Nun wird nahe der französischen Ortschaft Meymac nach 36 Leichen gesucht.

Von
  • Mario Lawson
  • Ulrike Koltermann, AFP

„Alle wussten es, niemand hat darüber gesprochen“, sagte André Nirelli, französischer Landwirt im Ruhestand. Von der Terrasse seines Hofes konnte er seinen Blick über die hügelige Landschaft der südwestfranzösischen Corrèze schweifen lassen. „Dort waren sie untergebracht“, sagte er und zeigte auf eine große Scheune aus Kalkstein zu seiner Linken.

Sie – das waren 46 Wehrmachtssoldaten und eine der Kollaboration verdächtigte Französin, die sich im Frühsommer 1944 in der Hand einer Gruppe französischer Widerstandskämpfer befanden. Von dieser Scheune aus wurden die Gefangenen in ein Waldstück nahe der Ortschaft Meymac geführt, wo sie Gruben ausheben mussten. Am 12. Juni 1944 wurden sie erschossen, ihre Leichen stürzten in die Gruben.

Die Region ist bekannt für schwere Kriegsverbrechen deutscher Soldaten: Im 50 Kilometer entfernten Tulle hatten SS-Soldaten drei Tage zuvor 99 Zivilisten an Balkonen und Laternen aufgehängt. Eine andere SS-Einheit verübte am 10. Juni in dem Ort Oradour-sur-Glane das schlimmste Massaker des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa mit 643 Toten.

Ende Juni hatte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in der Nähe von Meymac mit der Suche nach den Überresten der erschossenen Deutschen begonnen. Bodenanalysen lieferten Hinweise auf ein mögliches Massengrab.

Erste Grabung 1967 forderte elf Leichen zutage

Am Mittwoch begannen nun die Grabungen nach den Leichen – zunächst ohne Funde, wie der Volksbund am Mittwochabend mitteilte. Die Arbeiten sollen bis Ende August dauern. 1967 hatte es bereits eine erste Grabung gegeben, bei der die Leichen von elf Menschen geborgen wurden.

„Wir möchten gerne das zweite Massengrab finden, mit wahrscheinlich 36 Toten“, sagte Thomas Schock, der Leiter des Umbettungsdienstes beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, zu Beginn der Grabungen. „Die Zeitzeugen, die haben uns diese Stelle gezeigt. Das Georadar hat diese Fläche befahren und hier sind Anomalien in der Erde“, führte er weiter aus.

Zeitzeuge brach sein Schweigen

Auslöser der Suche war der Bericht des letzten Augenzeugen der Exekutionen, der nach mehr als sieben Jahrzehnten sein Schweigen gebrochen hatte. „Es war ein Kriegsverbrechen“, sagte der 98 Jahre alte Edmond Réveil, der nicht ahnte, welches Aufsehen er auslösen würde. Über Wochen hatte er seine Geschichte immer wieder erzählt, geduldig, aber zurückhaltend.

Wie seine französische Widerstandsgruppe die deutschen Gefangenen damals „geerbt“ hatte und nicht wusste, was sie mit ihnen machen sollte. Wie sein Kommandeur, ein deutschsprachiger Elsässer, „wie ein Kind geweint“ hatte, als er mit den Deutschen sprach. Wie die Wehrmachtsoldaten vor der Erschießung Fotos ihrer Familien ansahen. „Es waren keine jungen Soldaten, die Jungen waren in Russland“, erinnert sich der alte Mann. Er selbst habe nicht geschossen.

Arbeiter beobachten, wie ein Bagger Erde abträgt, um die sterblichen Überreste deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg zu exhumieren.
Arbeiter beobachten, wie ein Bagger Erde abträgt, um die sterblichen Überreste deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg zu exhumieren.

© AFP/PASCAL LACHENAUD

Fragen danach, warum er so lange schwieg und was ihn nun im hohen Alter zum Reden bewog, wich er aus. „Es musste gesagt werden“, murmelte er nur. Hatte er Angst vor strafrechtlicher Verfolgung? Wollte er die Kameraden nicht verraten, die gelobt hatten, nicht darüber zu reden?

Niemand wollte, dass die Geschichte hochkocht und das Bild des Widerstands beschmutzt.

Philippe Brugère, Bürgermeister von Meymac

Trotz ihres Schweigegelübdes hatte es sich damals in Meymac herumgesprochen. „Wenn die ein paar Gläser getrunken hatten ...“, erinnerte sich Nirelli. Als er zehn Jahre alt war, beobachtete er im Wald, wie dort menschliche Skelette ausgegraben wurden. „Die Schädel haben mich beeindruckt“, erinnerte er sich. „Einer hatte hinten ein Loch.“

Exekution war offenes Geheimnis

Tatsächlich hatte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge schon in den 60er Jahren nach den Überresten der deutschen Soldaten gesucht. Elf von ihnen wurden geborgen und auf einem deutschem Soldatenfriedhof in Westfrankreich bestattet.

Es ist unklar, wer die Suche damals veranlasste. Der Präfekt von Corrèze, Étienne Desplanques, erwähnte einen Bericht des Volksbunds von 1969, nach dem der damalige Bürgermeister darum gebeten habe, die Suche nicht fortzusetzen.

Der Präfekt der Region Correze, Etienne Desplanques, bei einer Pressekonferenz zu den Grabungen.
Der Präfekt der Region Correze, Etienne Desplanques, bei einer Pressekonferenz zu den Grabungen.

© AFP/PASCAL LACHENAUD

Es deutet einiges darauf hin, dass die Sorge bestand, dass das Ansehen der französischen Widerstandskämpfer beschädigt werden könnte. „Es herrschte eine Omertà“, erklärte der Bürgermeister von Meymac, Philippe Brugère, in Anspielung an das kollektive Schweigen im Umfeld der italienischen Mafia. „Niemand wollte, dass die Geschichte hochkocht und das Bild des Widerstands beschmutzt.“

Dieses Gefühl ist auch heute noch zu spüren. „Réveil hätte besser daran getan, zu schweigen“, sagte der frühere Landwirt Nirelli. Andererseits habe er Verständnis für die Nachkommen der deutschen Soldaten, die auf diese Weise Gewissheit bekämen. „Vielleicht muss man auch erst wissen, was passiert ist“, fügte er nachdenklich hinzu.

Historiker zählt elf mögliche Verbrechen des Widerstands

Der deutsche Historiker Peter Lieb merkte an, dass es bislang keine systematische Aufarbeitung möglicher Verbrechen des französischen Widerstands gibt. „Es ist nach wie vor ein schwieriges Thema“, sagte er. Lieb kommt – ohne Meymac – bei seinen Recherchen auf zehn Fälle, in denen Widerstandskämpfer insgesamt 350 deutsche Soldaten erschossen haben.

Der 98 Jahre alte Réveil berichtete, die Partisanen seien damit überfordert gewesen, eine große Gruppe von Kriegsgefangenen zu versorgen. „Es war kein Racheakt“, betonte er. Von den SS-Massakern wenige Tage zuvor in Tulle und Oradour-sur-Glane habe er damals nichts gewusst.

Réveil wirkte erleichtert, dass er durch sein Geständnis eine lebenslange Last losgeworden ist. Er wünscht sich, dass für die toten Deutschen im Wald von Meymac ein Gedenkstein aufgestellt wird. Es wäre eine Premiere in Frankreich. (AFP)

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