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Die Geschichte: Die rohe Botschaft von Santo Domingo

Sie werden gejagt, versklavt, misshandelt: Die Ureinwohner in der Neuen Welt leiden – und niemand stoppt die spanischen Eroberer. Da tritt vor Weihnachten 1511 ein Mönch auf. Er ist der erste Anwalt der Unterdrückten.

Die Kathedrale von Santo Domingo ist gefüllt bis auf den letzten Platz. Viele Rechtsgelehrte und königliche Beamte sind gekommen, auch Gouverneur Diego Kolumbus, der Sohn des großen Entdeckers. Die Dominikanermönche haben sie alle extra eingeladen, haben jeden Einzelnen zu Hause besucht und angedeutet, dass die Predigt am vierten Adventssonntag eine ganz besondere sein werde – dass der Ordensbruder Antón Montesino über eine eminent wichtige Angelegenheit sprechen wolle.

Es ist der 21. Dezember 1511. Fast genau 19 Jahre zuvor haben die ersten Europäer die Karibikinsel betreten, die sie Española nennen. Santo Domingo, eine spanische Gründung, ist ihre größte Stadt, sie liegt an der Südküste und gilt als Zentrum der Kolonialisierung in der Karibik. Hier treffen die Schiffe aus Europa ein, von hier aus starten die spanischen Eroberer ihre Raubzüge. Für die Indios bedeutet die Anwesenheit der Europäer eine demografische Katastrophe: So sollen allein zwischen 1494 und 1496 zwei Drittel der einheimischen Inselbevölkerung ums Leben gekommen sein – durch Hunger, Kämpfe oder Sklavenjagd, durch eingeschleppte Krankheiten sowie Fronarbeit auf Plantagen oder in Goldminen.

Antón Montesino steigt auf die Kanzel und empfiehlt der Gemeinde, aufmerksam zuzuhören. Er erklärt, der Advent sei eine Zeit der Umkehr und Buße. Dann beginnt er seine Anklage, die noch Jahre später diskutiert werden wird, die bis nach Europa zum spanischen König vordringt und Anstoß für Machtkämpfe und neue Gesetze sein wird.

Der Bettelmönch wagt Unerhörtes: Er verkündet allen Anwesenden, dass sie „wegen der Grausamkeit und Tyrannei, die ihr gegenüber diesen unschuldigen Menschen anwendet, in Todsünde seid, und in ihr lebt und sterbt.“

Der Mönch wählt so drastische Worte, dass kein Landsmann die Botschaft missverstehen, sie einfach überhören kann: „Sagt, mit welchem Recht und nach welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indios in solcher erbarmungslosen und schrecklichen Knechtschaft? Mit welcher Machtbefugnis habt ihr solche verabscheuungswürdigen Kriege gegen diese Völker, die sanft und friedlich in ihren Ländern lebten, geführt, in denen ihr so unendlich viele von ihnen mit unerhörten Morden und Verwüstungen ausgerottet habt? Wie unterdrückt und strapaziert ihr sie, ohne ihnen Essen zu geben oder ihre Krankheiten zu behandeln, die sie durch die maßlosen Arbeitsleistungen ereilen und sie sterben lassen oder, besser gesagt, ihr tötet sie, um Tag für Tag Gold herauszuholen und zu gewinnen?“ Der Pater appelliert an das Gewissen der Gemeinde. Den Kern seiner Rede bildet dabei eine Sequenz rhetorischer Fragen: „Sind dies denn keine Menschen? Haben sie denn keine vernunftbegabten Seelen? Ist es nicht eure Pflicht, sie zu lieben wie euch selbst?“

Die Reaktionen in der Kathedrale sind höchst unterschiedlich. Der Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas, der Jahrzehnte später die Gräueltaten der Spanier ausführlich beschreiben wird, fasst es folgendermaßen zusammen: „Viele schienen in Ohnmacht zu fallen, andere waren verstockter und einige zeigten etwas Reue, doch keiner wurde bekehrt, wie ich später erfuhr.“ Sobald Antón Montesino die Kirche verlassen hat, setzt allgemeines Gemurmel ein, so dass die Messe kaum ordentlich beendet werden kann.

Noch am selben Tag versammeln sich wichtige Amtsträger Santo Domingos im Haus des Gouverneurs. Sie wollen die überraschende Anklage nicht hinnehmen. Ihre Betroffenheit durch die harte, alle verdammende Predigt verkehrt sich in Wut und Rechthaberei: Montesino habe den spanischen König, Ferdinand von Aragón, angegriffen und dessen Herrschaft in Westindien infrage gestellt, heißt es. Schließlich hat der Mönch den Besitz von Indios für Unrecht erklärt, obwohl doch der König selbst sie den Kolonisten überlassen hatte: Das Encomienda-System, das spanischen Abenteurern als Lohn für ihre Verdienste bei Expeditionen Land sowie Indios als Arbeitskräfte zuteilt, ist durch königliche Anordnungen legitimiert. Zudem ist es ein tragender Pfeiler der kolonialen Wirtschaft Spaniens.

Die Versammelten stimmen darin überein, dass der Prediger für seine ungeheuerliche Botschaft bestraft werden muss, ebenso seine Unterstützer. Im Anschluss an ihre Versammlung ziehen sie zum Tor des Dominikanerkonvents und verlangen nach Antón Montesino.

Der Bettelorden ist erst seit einem Jahr auf der Insel tätig, er ist den Franziskanern, Merzedariern und Hieronymiten gefolgt. Die von der Ordensleitung entsandten Männer lebten zunächst in Strohhütten, sie sind nicht nur mit der seelsorglichen Betreuung der hier lebenden Spanier beauftragt, sondern vor allem mit der Missionierung von Indios. Ende des Jahres 1511 zählt der Konvent von Santo Domingo bereits 15 Ordensbrüder. Jeder von ihnen hat das Manuskript der Adventspredigt mit seinem Namen unterzeichnet.

Antón Montesino stellt sich den aufgebrachten Stadtoberen entgegen. Diese fordern, der Pater müsse am nächsten Sonntag widerrufen – andernfalls hätten die Ordensbrüder ihre Sachen zu packen, um die Rückreise nach Spanien anzutreten. Die Mönche beeindruckt das kaum. Da sie nur wenig besitzen, antwortet Pedro de Córdoba, der Konventsobere: „Das, meine Herren, können wir bestimmt ohne große Mühe schaffen.“ Am Ende einigen sich beide Seiten auf einen Kompromiss. Montesino verspricht, beim nächsten Gottesdienst erneut auf die Kanzel zu steigen. Er werde sich bemühen, alle Kritiker zufriedenzustellen, indem er das bereits Gesagte erläutert.

Am Sonntag, den 28. Dezember 1511, ist das Gotteshaus wieder gefüllt, diesmal auch ohne persönliche Einladungen. Alle wollen den geforderten und erwarteten Widerruf des Geistlichen miterleben. Die Mehrheit geht davon aus, dass die am vierten Advent gepredigte Botschaft nach Weihnachten keine Geltung mehr hat.

Als biblischen Text und Leitmotiv hat Montesino jedoch eine Stelle aus dem Buch Hiob gewählt. Sie lautet: „Ich will mein Wissen von Anfang an wiederholen, und meine Reden sind wahrlich ohne Lüge.“ Einige in der Kathedrale ahnen, worauf der Mönch hinauswill, sie können kaum an sich halten. Montesino indes versucht, mit Argumenten und Belegen darzustellen, warum die kränkenden Worte der vorigen Predigt wahr waren und auch wahr bleiben.

Statt zu relativieren, prophezeit er erneut, die Siedler hätten wegen ihres ungerechten und tyrannischen Verhaltens gegenüber den Indios mit dem Verlust des ewigen Heils zu rechnen – verbunden mit der inständigen Mahnung, sich doch noch rechtzeitig zu bessern. Er kündigt auch an, die Ordensmitglieder wollten künftig unter diesen Umständen keinem Spanier mehr die Beichte abnehmen. Außerdem seien sie „sicher, Gott mit alledem zu dienen und auch dem König keinen geringen Dienst zu erweisen“.

Die Empörung der Gemeindemitglieder ist groß. Sie wissen, dass weitere Gespräche mit den Ordensbrüdern vor Ort zwecklos wären, also wenden sie sich an das spanische Herrscherhaus. Die Beschwerdebriefe mit Datum vom 15. Januar 1512 richten sich nicht nur an König Ferdinand, sondern auch an die Mitglieder des Kronrats. Die Aufruhr verursachende Adventspredigt, die sie alle zum Aufenthalt in der Hölle verdamme, greife die Souveränität des Königs an, heißt es in den Schreiben. Außerdem bedrohe sie die Einkünfte der Krone in den Kolonien.

Die Eingaben der Kolonisten zeigen zunächst die erhoffte Wirkung. Der König beschwert sich beim Orden über die angeblich regierungsfeindliche Predigtpraxis und verlangt sofortige Abhilfe. Der Provinzial der Dominikaner rügt daraufhin schriftlich die Ordensbrüder, wirft ihnen mangelnde politische Klugheit vor. Auch wenn das Anliegen berechtigt sei, hätte die Predigt dem Kronrat in Spanien und auch dem Gouverneur auf der Insel vorab zur Begutachtung vorgelegt werden müssen. Die Dominikaner von Santo Domingo hätten mit ihrem riskanten Versuch die eigene Mission in Westindien nicht gefördert, sondern gefährdet.

Der Konvent in Santo Domingo will trotzdem nicht einlenken. Er schickt nun Antón Montesino selbst nach Spanien. Der Mönch soll die eigene Ordensleitung und auch den König über die brutalen Verhältnisse informieren. Beamte am Hof versuchen, Montesinos Darstellung vor dem Souverän zu verhindern, dennoch gelingt es dem Mönch durch Hartnäckigkeit und List, zu König Ferdinand vorzudringen.

Sein persönlicher Bericht über die Gräueltaten beeindruckt. Der König verspricht, sich der Problematik anzunehmen, und beauftragt eine Kommission von Juristen und Theologen.

Im Dezember 1512 erlässt er schließlich die „Leyes de Burgos“, die insgesamt 35 Gesetze von Burgos. Sie sollen das Zusammenleben von Siedlern und Einheimischen verbindlich regeln, das spanische Herrscherhaus erhofft sich eine zivilisierende und missionierende Wirkung. Tatsächlich verbessern sie die Lage der Indios kaum: So wird nun offiziell festgelegt, dass die Ureinwohner von ihrem Land vertrieben und in Gemeinschaftssiedlungen unterzubringen sind. Jeweils 50 Indios müssen sich vier kleine Hütten teilen. Die Kolonialisten sind außerdem verpflichtet, den Indios Raum zum Beten bereitzustellen. Auch in Nähe der Minen sollen Kirchen entstehen, damit die Indios sonntags an Gottesdiensten teilnehmen können. Ein weiteres Gesetz besagt, dass die versklavten Ureinwohner nicht grundlos misshandelt oder weiterverkauft werden dürfen. Allerdings legen viele Siedler die Regeln eigenwillig aus oder missachten sie schlicht. Vor allem aber wird das von den Dominikanermönchen erkannte Grundübel – das Encomienda-System – in keiner Weise angetastet. Vielmehr zementieren die Gesetze von Burgos das Prinzip der Ausbeutung. Gleichwohl werden sie noch Jahrhunderte später als Beginn „kolonialer Sozialpolitik“ verklärt.

Die Gesetzgebung der spanischen Krone schwankt zwischen der Verfolgung ihrer materiellen Interessen und der Wahrnehmung der ihr vom Papst übertragenen religiösen Verpflichtungen. Letztlich kann und will das Königshaus aus wirtschaftlichen und machtpolitischen Gründen nicht auf die Möglichkeiten ihrer Kolonien verzichten. Auch die eifrigen Missionare von Santo Domingo müssen sich arrangieren.

Nein, als Beginn kolonialer Sozialpolitik lassen sich die erlassenen Gesetze des Königs schwerlich begreifen. Richtiger ist: Mit dem Paukenschlag der prophetischen Adventspredigt von 1511 beginnt der Kampf für eine humane Behandlung der Indianer. Das Ergebnis der ersten Etappe ist höchstens ein Teilerfolg, eher jedoch eine Niederlage. Gleichwohl können die Vorkommnisse vor 500 Jahren durchaus als „großes Ereignis in der Geistesgeschichte der Menschheit“ eingeschätzt werden, wie es der Historiker Richard Konetzke tat.

Andere setzen den Kampf der Mönche fort: Insbesondere Bartolomé de Las Casas, zunächst Kolonist, dann selbst Ordensmitglied, der sich durch die Dominikanermönche von Santo Domingo zum Fürsprecher der Indios wandelte und heute als ein Wegbereiter der modernen Menschenrechte gilt, kritisiert ausdauernd und fundamental das Encomienda-System als den tragenden Pfeiler der kolonialen Wirtschaft Spaniens. Wie Antón Montesino sieht er darin das eigentliche Hindernis zur Erfüllung des missionarischen Auftrags und zur Verwirklichung allgemeiner menschlicher Rechte. Zwar erreicht auch Las Casas trotz beharrlicher Kritik nicht die Abschaffung des Systems, wohl aber verbindlichere Regeln, die zumindest zeitweilig eingehalten werden: Die 1542 erlassenen „Leyes Nuevas de Indias“, die „neuen Gesetze“, sind von Las Casas deutlich beeinflusst – und indirekt damit auch den mutigen Mönchen von Santo Domingo zu verdanken.

Branko Nikolitsch

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