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Die Musikerin Cardi B rappt gegen den gesellschaftlichen Keuschheitsgürtel

© WarnerMusic

Erotische Selbstdarstellung von Frauen: Sexpositivität

Eine Arte-Doku erkundet die Befreiung weiblicher Lust in der Popkultur.

Das gehauchte Stöhnen, mit dem Jane Birkin 1969 in „Je t'aime … moi non plus“ einen Audio-Orgasmus produzierte, führte zu einem weltweiten Eklat. Radiostationen boykottierten den Hit. Auf Initiative des Vatikans verhaftete man sogar den Verantwortlichen der Plattenfirma.

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Doch im Lauf der Jahrzehnte verschoben sich die Grenzen erotischer Selbstdarstellung immer mehr. US-amerikanische Rapperinnen feuern heute ein offensives Stakkato sexueller Fantasien ab. Dagegen mutet Jane Birkin wie eine Pastorentochter an. Sind solche immer exaltierter werdenden Inszenierungen tatsächlich Emanzipation? Erniedrigen sich Frauen noch immer als Objekt für den männlichen Blick? Diese Frage stellt Nicole Blacha, bekannt durch ihre Dokumentation „Propaganda aus Stein. Was tun mit den Bauten und Denkmälern der Nazis?“. In ihrem neuen Film unternimmt Blacha einen kurzweiligen Spaziergang durch die Geschichte weiblicher Selbstinszenierung in der Pophistorie.

[„Pussy, Pleasure, Power – Die weibliche Lust in der Popkultur“, Arte Mediathek]

Als Donna Summer sechs Jahre nach Jane Birkin ins Mikro stöhnte, war die Musik deutlich fetziger und die weibliche Erotik hörbar ekstatischer. Vor allem posierte die Disco Queen im Video ohne männlichen Partner. Ihre Lust erlebte sie nicht mehr für einen Mann. Donna Summer stellte jedoch klar: „Ich wollte den Song nicht singen, weil er mir zu sexy war.“ Sie war gegen eine Veröffentlichung. Doch die Platte kam ohne ihr Wissen raus. Entfesselung weiblicher Lust war also nach wie vor ein Kalkül im männlich dominierten Musikgeschäft.

Das änderte sich erst mit Madonna. Musikclips, in denen sie vor der Kamera explizite S/M- und Selbstbefriedigungsfantasien auslebte, entstanden unter ihrer eigenen Regie. Was denn der Unterschied zwischen ihren Videos und Pornografie sei, wurde die Pop-Diva 1986 in der ABC-Sendung „Nightline“ gefragt. „Es gibt keinen Mann, der mich zwingt, es zu machen“, erklärte Madonna dem verdutzten Moderator. „Alles ist meine eigene Entscheidung.“

Wie subversiv ist Madonna?

Madonna pulverisierte Vorstellungen von angemessener, tolerierbarer Sexualität. Ist sie aber wirklich die subversive Frau, die provokant über ihre Lust spricht? Anhand einer Fülle von Beispielen zeichnet die Dokumentation eine über Jahrzehnte gleich bleibende Ambivalenz nach. Künstlerinnen wie Rhianna oder Britney Spears scheinen sich dem männlichen Blick zu verweigern – machen sich aber immer wieder zu seinem Objekt.

So tabulos und explizit die Darbietungen im Pop auch sind: Offenbar werden stets nur männliche Fantasien reproduziert. Wann aber geht es wirklich um weibliche Lust? Eine Antwort gibt die Gynäkologin und Bestsellerautorin Sheila de Liz, die aufgrund ihrer Offenherzigkeit als „Jamie Oliver der Frauenmedizin“ gilt. Ihrer Meinung nach sind Videos, „in denen Frauen mit Frauen interagieren, miteinander Spaß haben und Weiblichkeit feiern“, nicht mehr für den männlichen Blick bestimmt.

Als Paradebeispiel dient der Clip „Wap“ aus dem Jahr 2020. Cardi B und Megan Thee Stallion zelebrieren eine surreale Orgie im Stile von Marquis des Sade, inszeniert als quietschbuntes Videospiel. Dieser „Pussy Paukenschag“, über 500 Millionen Mal auf YouTube aufgerufen, löste eine heftige Kontroverse aus: Solche Songs kämen heraus, wenn Kinder ohne Gott aufwüchsen, polterte ein republikanischer Kongressabgeordneter. Dessen Kollege hätte sich „am liebsten die Ohren mit Weihwasser ausgewaschen“.

Aber wie ist es, wenn Frauen sich auf diese Weise selbst verwirklichen – und zwar in einem Musikgeschäft, in dem vom Kameramann über den Beleuchter bis hin zum Maskenbildner nach wie vor Männer in der Überzahl sind? Und wie reagiert die Legion der Hater auf subversive Bildwelten lustbetonter Frauen? Führt diese „Sexpositivität“ der Popwelt bei jungen weiblichen Fans zur Befreiung oder zu neuen Zwängen? Gemeinsam mit Leïla Slimani, Mithu Sanyal, Laurie Penny und anderen Feministinnen lotet die anregende Dokumentation die Geschichte weiblicher Lust in der Popkultur vielstimmig aus.

Manfred Riepe

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